Maschinenkinder
Bonaparte mit seinen venezianischen Bögen, darüber das Häusergewirr der Altstadt, pastellfarbene Villen und Residenzen, die den Berghang säumten. Die Türme zweier Kirchen überragten die Dächer, entferntes Glockengeläut. Gabriel erinnerte sich, hier hatte er einen Sommer verbracht. Wie lange war das her? Fünf Jahre, zehn?
Mentons Gebäude waren unzerstört, wie durch ein Wunder hatte keiner der Atomschläge die Stadt direkt getroffen … aber die Radioaktivität war weitergekrochen, sickerte ins Grundwasser ein, regnete schwarz und heiß auf die Balkone, Treppen und Gassen, tränkte die Olivenhaine und Zitronengärten mit Gift.
Erst als Gabriel sein Kraftrad unter einer welken Palme stoppte, den Motor ausschaltete und abstieg, bemerkte er, dass keine Böe wehte, nicht der geringste Luftzug: Der Wind stand still, und Schwüle lastete auf dem Hafen, fauligfeucht wie eine überreife Frucht. Gabriel öffnete das Visier, doch der Gestank wirkte nur intensiver, schnürte ihm die Kehle zu.
Lauter schallten jetzt die Glocken, verstärkten seine Kopfschmerzen noch; er keuchte. Die reinste Pest! War Menton schon immer derart verseucht gewesen? Oder lag das an der Uhrzeit, am Sommer? Er wusste es nicht mehr – beschädigtes Langzeitgedächtnis. Keine Vergangenheit, keine Zukunft, und die Tage vergingen im gleichen Takt: ein paar Stunden bis zum Abend, eine heiße Nacht, dann wieder Morgen.
Atomare Stasis.
Gabriel schlang eine Stahlkette um Räder und Motorblock und ließ zwei Schlösser einrasten. Dann klappte er den Schalensitz zurück, holte den Seesack aus dem Fach. Müde, schwer atmend überquerte er die Straße und durchschritt einen niedrigen Torbogen; dahinter lag eine Treppe, die Gabriel gerade emporsteigen wollte, als er hinter sich ein Kläffen hörte. Er fuhr herum:
Ein Straßenköter humpelte auf ihn zu, dem das zweite Vorderbein fehlte. Schaum vor dem Maul; das Tier fletschte die Zähne und knurrte. Tollwut! In Berlin hatte Gabriel ganze Rudel kranker Tiere gesehen, die über Sterbende und Tote herfielen. Schnell zog er seine Pistole, zielte auf den Hund. »Zurück, mein Freund«, sagte er mit tiefer Stimme. »Na los. Lauf!«
Zu seiner Überraschung gehorchte das Tier: Geifernd wandte es sich ab und humpelte unter dem Torbogen hindurch zum Quai Bonaparte. Gabriel behielt es im Auge, den Lauf der Waffe im Anschlag, bis der Köter einen Müllcontainer umrundete und schließlich aus seinem Blickfeld verschwand.
***
Stufe für Stufe die Rampen hoch. Über ihm thronte die Basilika St. Michel, ihre Fassade in blutiges Licht getaucht, während Gabriel zum Vorhof hinaufstieg. Oben auf dem Platz war niemand zu sehen; die Lokale verrammelt – umgekippte Stühle, Müllbeutel und Zeitungsfolien lagen auf dem Steinpflaster verstreut, ansonsten keine Anzeichen von Plünderungen oder blinder Anarchie, wie sie Gabriel in so vielen Städten gesehen und miterlebt hatte. Außer den nervtötenden Glocken hörte Gabriel nichts. Diese Ruhe war unangenehm.
Sein Instinkt warnte ihn. Hier stimmte was nicht. Wo waren die Bewohner? Hielten sie tatsächlich einen Gottesdienst ab? Das war seit Jahren nicht vorgekommen. Oder hatten sie sich in den Kellern verkrochen? Aber so stark war die Strahlung eigentlich nicht.
Seltsam.
Gerade wollte er den Geigerzähler prüfen, als sein Blick auf einen alten Citroën fiel, dessen Motorhaube vor Hitze flimmerte. Er trat an das Fahrzeug heran und spähte durchs Fenster: Sand in den Armaturen, Kaugummis im Becherhalter; und auf den Sitzen eine blaue Displayfolie, ein interaktiver Reiseatlas der Côte d’Azur. Volltreffer. Gabriel zog am Griff – die Tür war unverschlossen, er öffnete sie und beugte sich ins Cockpit, um den Gegenstand aufzulesen. Danach öffnete er das Handschuhfach, fand aber nur eine elektronische Postkarte von Monaco; wertloser Schund.
Als Gabriel sich gegen das Fahrzeug lehnte, spürte er den aufgeheizten Lack im Rücken. Müde entrollte er den Atlas, tippte kurz auf das Startmenü, wodurch eine virtuelle topografische Karte aufblitzte – alle Städte und Straßen mit Touristeninformationen, sechs Jahre alt. Ein Glücksfund!
Gabriel lächelte zufrieden. Nochmals ließ er seinen Blick über den Vorplatz schweifen. Wo zum Teufel steckten die Einwohner? Es hätten Hunderte, wenn nicht Tausende sein müssen, die überlebt hatten, trotz der hohen Sterblichkeitsrate. Und wenn nicht: Wo waren ihre Leichen? Migräne pochte an seinen Schläfen, und wieder ein
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