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Maschinenkinder

Maschinenkinder

Titel: Maschinenkinder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Shayol Verlag
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öffnete den aufgeblähten Bauch – und das Gekröse platzte heraus, klatschte blutignass in ihren Schoß. »Und reißt zu ihrer Qual die Geister fort! Und dreht sie um, nach unten und nach oben. Ihr Jammerschrei, Geheul und –«
    »Pardon?«, fuhr Gabriel dazwischen. »Ich hätte ein paar Fragen.«
    »Jedwedes Licht verstummt im dunkeln Graus, das brüllte, wie wenn sich Sturm erhoben!«
    »Ist das von Dante? La Commedia?« Irgendwie musste er das Gespräch in Gang bringen. Vertraute Zeilen, vielleicht an einer Uni gelernt.
    Stumm hob die Alte den Kopf und glotzte ihn an. Ihre Augen waren glasig, wie die der toten Fische.
    »Divina, divina. Ein Engel naht – drum blick empor, dorthin!«, heulte sie und Tränen sickerten ihr über die zerklüftete Haut. »Doch wehe dir, Erde, und wehe dir, Meer! Denn der Teufel ist zu euch herabgekommen!«
    »Hör zu«, sagte Gabriel entnervt. »Ich habe wirklich keine Zeit für diesen apokalyptischen Scheiß … Gib mir Auskunft, Alte, dann lass ich dich allein.«
    Offenbar hatte die Frau völlig den Verstand verloren, ein posttraumatisches Stresssyndrom: Es gab so viele, die den Blitz bis heute nicht verkraftet hatten. Schrecklich, diese leeren Augen. »Schau her! Hast du das schon irgendwo gesehen?«
    »Ich sah, dass die Frau betrunken war, berauscht vom Blut der Menschen«, sang die Alte und griff sich einen weiteren Fisch, dem sie das Schuppenkleid wegschabte. »Erschüttert und betroffen starrte ich sie an!«
    Gabriel öffnete seine Lederjacke. Auf seiner Brust kam ein Tattoo zum Vorschein, ein roter, verwaschener Stern mit einem Schriftzug in der Mitte: U14. »Dieses Zeichen? Oder so etwas hier?«
    Er wartete, bis die Alte von ihren Fischen aufschaute. Erst dann drehte er den Kopf so weit nach links, damit sie die Keramikbuchse am Nacken sah, die Löcher und den blauen Stift. Schnell zog er den Speicher heraus – dieses schreckliche Gefühl, wenn ein Großteil seiner Erinnerungen wegbrach und nur eine Ahnung zurückblieb, eine dumpfe Empfindung, dass etwas Wichtiges fehlte. Dafür verschwanden die Kopfschmerzen sofort.
    Datenstäbe, danach suchte er, einen neuen Siliziumspeicher, mit dem er seine eigene Gedächtniskapazität aufstocken konnte. Sein Stab war bis zum Bersten voll, als Inhalt die lückenhafte Aufzeichnung seiner letzten sechs Jahre: Ursache seiner Migräne, die täglich schlimmer wurde. Grund seiner Reise durch die Hölle. Es musste welche geben, leere Speicher, vielleicht auch volle, angefüllt mit Erinnerungen, mit der Vergangenheit eines Menschen, die länger reichte als seine sechsjährige Aufnahmespanne.
    »Ein Speicherstift«, erklärte er der Alten. Der Stab funkelte im Sonnenlicht. »Hightech.«
    »Ja!« Ihr Gesicht zeigte eine Mischung aus kindlichem Staunen und Entsetzen, als sie den Finger anhob und auf das Tattoo zeigte. »Wer den Kampf besteht, wird das alles erben. Ich werde sein Gott, und er wird mein Sohn sein!«
    »Pardon? Ich verstehe nicht, was du damit sagen willst.«
    Die Frau lächelte verzweifelt.
    »Okay, das reicht; ich habe dein Geschwafel satt.« Gabriel steckte seinen Speicherstift in die Buchse und schloss die Augen, während ein Strom aus Bildern, Tönen, Gefühlen in seinen Körper zurückflutete. Kopfschmerz hämmerte an seiner Stirn. »Au revoir.« Er drehte sich um.
    »Dein Reich komme, dein Wille geschehe«, schrie die Alte ihm hinterher. »Auf dem Friedhof der Schiffe ist dein Leviathan gestrandet!«
    ***
    Menton lag hinter ihm. Gabriel rauschte die Klippenstraße entlang und gab wieder Vollgas – bloß weg! So schnell wie irgend möglich wollte er die Distanz zur Totenstadt vergrößern. Es schüttelte ihn, sobald er an die Leichen in St. Michel oder die verrückte Alte dachte. Ihr schrecklicher Gesang kreischte immer noch durch seinen Kopf:
    Leviathan.
    Friedhof der Schiffe … zum Teufel, was sollte das bedeuten?
    Irres Geschwätz, weiter nichts?
    Im Visier des Helms tauchten rötliche Felsvorsprünge auf. Das Meer war nicht zu sehen, dafür roch er die Küste: Seegras und salzige Gischt. Seit er im Sattel des Kraftrads saß, war die atomare Hitze für ihn erträglicher; die Kopfschmerzen ließen nach, und er konnte seinen Gedanken freien Lauf lassen. Das Wort auf dem Segel, er hatte es gar nicht entziffert. Egal, alles unwichtig – sein Abstecher war trotzdem erfolgreich gewesen, denn Gabriel konnte auf ein neues Puzzleteil zurückgreifen, eine Erinnerung, die etwas Licht in seine zerstückelte Vergangenheit

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