Maschinenmann: Roman (German Edition)
Ästhetik gegen Funktionalität.«
»Natürliches Aussehen ist mir nicht wichtig.«
Lola stockte der Atem. » Wirklich! Das freut mich. Mir geht es nämlich genauso. Echte Schönheit ergibt sich aus der Funktion. Deswegen finden wir Dinge attraktiv: weil sie funktionieren. Zähne zum Beispiel. Wir mögen sie nicht ohne Grund gerade und weiß, sondern weil das bedeutet, dass sie gut zubeißen. Und dieses Bein hier kann gut gehen.« Sie griff nach hinten. Was sie zum Vorschein brachte, ähnelte keinem Bein. Es ähnelte einer Maschine. Der Fuß bestand aus zwei gewölbten, fast skiartigen Zinken. Aus dem hydraulischen Sprunggelenk erhob sich eine schwarze Doppelstrebe, die in ein Aluminiumknie mündete. Nach dem Akkugehäuse zu urteilen, verfügte es wohl über einen Mikroprozessor. »Es ist ein Exegesis Archion mit computergesteuertem, lernfähigen Knie. Multiachsensystem mit polyzentrischer Rotation. Die Ferse ist aus Kohlenstoffpolymer. Das Olympische Komitee hat das Modell verboten, weil es einen unfairen Vorteil gegenüber normalen Beinen darstellt. Zu viel Energierückführung. Das Knie ist programmierbar. Es lernt präzise Ihren Gang. Dadurch muss man beim Gehen nicht mehr nachdenken. Man macht sich keine Sorgen mehr, wie man den Fuß schwingt, sondern geht einfach.«
Ich nahm das Bein in die Hand und drehte es ein wenig. Es war leicht. Interessantes Design. Aber nichts Bahnbrechendes. Oben wie gehabt ein Kübel und eine durchsichtige Plastikfassung. Ich spähte hinein, um zu erkennen, ob sich etwas Innovatives darin verbarg. Aber das war nicht der Fall.
»Sie wirken nicht gerade begeistert«, meinte Lola.
»Ist das das Beste?«
»Na ja, Charlie … Ehrlich gesagt, ich finde es toll.«
»Das ist der neueste Stand der Technik?«
»Sie meinen, da hat sich niemand groß ein Bein ausgerissen?« Lola grinste. Offenbar hatte sie sich einen Scherz erlaubt. Menschen in Heilberufen haben einen schwarzen Humor. Für sie ist ein Witz erst komplett, wenn Leichen gefleddert werden und Blut spritzt. »Nein, wirklich. Das ist das Beste.«
Ich gab ihr die Prothese zurück. »Okay.«
»Es ist nicht aus Fleisch und Blut. So was habe ich nicht zu bieten. Aber wenn Sie sich erst mal daran gewöhnt haben, ist es fast genauso gut wie ein richtiges Bein.«
»Okay.«
Sie sammelte ihre Beine zusammen. Ich ließ mich zurück ins Bett sinken. Nichts gegen Lola Shanks. Doch sie hatte einfach nicht, was ich wollte.
In dieser Nacht fuhr ich aus dem Schlaf und entdeckte, dass ich mir die Fingernägel in den Stumpf gebohrt hatte, um an den Nähten zu ziehen. Hastig setzte ich mich auf und knipste das Licht an, auf das Schlimmste gefasst. Aber anscheinend war ich unverletzt. Nur ein wenig klare Flüssigkeit sickerte heraus. Ich wischte sie mit einem feuchten Tuch aus der Schublade ab, schaltete die Lampe aus und ließ mich zurücksinken. Nach diesem verstörenden Erlebnis brauchte ich wirklich lange, bis ich wieder Schlaf fand.
Im Krankenhaus gab es einen Raum mit zwei Holmen aus Holz. Die Holme waren zum Festhalten. Drei Meter lang, einen Meter voneinander entfernt und hüfthoch. Außer einigen Stühlen, einem Schreibtisch und einer Topfpflanze waren sie die einzigen Gegenstände in dem Raum. Es war kein Raum für Gegenstände, sondern ein Raum für Bewegung.
Lola Shanks parkte mich neben einem Plastikstuhl und setzte die Exegesis-Beine ab, um meine Pyjamahose hochzurollen. Ich war nicht gerade glücklich über das alles. Über diese Holme.
»Mir fällt auf, dass Sie nicht viel reden.« Sie steckte die Hosenbeine fest, bis sie aussahen wie Shorts.
Zum letzten Mal hatte ich vor elf Jahren Shorts getragen. Ein weiteres Beispiel dafür, wie ich zu jemandem gemacht wurde, der ich nicht sein wollte.
»Das ist ein Problem«, fuhr sie fort.
»Warum?«
»Weil Sie gesellig sein müssen.« Sie rollte einen Strumpf über meinen Stumpf. »Manche Leute werden zögern, Sie anzusprechen, aus Angst, etwas Falsches zu sagen. Da müssen Sie das Eis brechen.« Sie klemmte sich den Fuß unter den Arm und führte das Ende des Strumpfs durch ein Loch in der Fassung. Dann zog sie.
Ich spürte einen furchtbaren Druck, als würden gleich meine Nähte platzen. Mein Stumpf wurde in die Fassung gesaugt.
»Wie ist es?«
»Eng. Eng.«
»Eng ist gut.« Sie griff um meine Hüften herum, um den Gurt festzuzurren. »Sie sehen darin kein Problem, oder?«
»Worin?«
»In dieser Sache mit der Geselligkeit. Sie haben keine Angst vor dem
Weitere Kostenlose Bücher