Masken der Begierde
tröstlich.
Lucas stand am Fenster seines Schlafgemaches und blickte auf die Landschaft hinaus. In der Ankleidekammer schnarchte Morley lautstark auf seiner Pritsche, und selbst die geschlossene Tür konnte nicht verhindern, dass er seinen Kammerdiener deutlich hörte.
Lucas stützte sich seufzend auf das Fensterbrett. Der Mond hing voll und rund am nächtlichen Himmel, und die Farbe des Himmelskörpers erinnerte ihn an Buttermilch. Einen Moment lang fragte sich Lucas, ob die Menschen eines Tages Himmelskutschen bauen würden, die sie bis zum Mond hinauf transportieren würden. Kopfschüttelnd wandte er seinen Blick zur Auffahrt, die sich vor seinem Fenster ausbreitete.
Lucas’ Finger strichen selbstvergessen über das glatte Holz der Fensterbank. Violet war in Wahrheit die Tochter des Duke of Okeham. Lucas kannte die Okehams nur aus Erzählungen. Dem Duke eilte der Ruf eines geschäftstüchtigen Strategen voraus. Ein Mann, der sich streng den Traditionen und der Moral verpflichtet fühlte. Der diese Werte noch über das im ton geforderte Maß der Fürsorglichkeit und des Wohlergehens seiner Familie stellte.
Eine Einstellung, die Lucas nicht teilen konnte. Er hatte auch Violet als jemanden kennengelernt, dem die Menschen, an denen ihr etwas lag, mehr bedeuteten als Sitte und Anstand.
Sich gegen Vater und Konventionen aufzulehnen, um sich selbst nicht aufzugeben, das wagte kaum eine Frau, und Lucas bewunderte Violet dafür. Er war froh, dass er ihr die Vormundschaft für Allegra übertragen hatte. Violet würde Allegra nicht im Stich lassen. Niemals.
Er rieb seinen Nacken. Genau diese pflichtbewusste Fürsorge sollte sie aber nicht auf ihn ausweiten. Er hasste die Vorstellung, dass sie ihn zeitlebens umhegte und pflegte. Lucas hob seinen Blick, dorthin, wo Tredayn Castle liegen musste. Dort hatte alles begonnen. Vielleicht sollte es auch dort enden.
Seltsamerweise wurde ihm bei dem Gedanken, selbstbestimmt über seinen Tod entscheiden zu können, leichter ums Herz.
Violet erwachte mit Migräne. Sie blieb eine Weile reglos liegen, bis sie sicher sein konnte, dass ihr Kopf noch fest mit dem restlichen Körper verwachsen war. Nach dieser Erkenntnis überprüfte sie ihre Gliedmaßen. Alles funktionierte so, wie es sollte. Sie quälte sich aus dem Bett und war froh, dass niemand sie dabei beobachtete. Violet wusch sich und kleidete sich an, ehe sie sich auf ihrem Bett ausstreckte, um noch ein wenig zu ruhen.
Der Friede währte nicht lange, denn Allegra stürmte ausgeruht und voller Elan herein, wie es ihre Art war. Ihre Schritte dröhnten wie die Hammerschläge eines Schmieds auf seinem Amboss. Violet biss die Zähne aufeinander und richtete sich auf.
„Miss Delacroix, fühlt Ihr Euch heute Morgen noch unwohl?“
Violet winkte ab. „Nein, nein, alles in bester Ordnung“, log sie.
Allegra klatschte in die Hände, und Violet zuckte ob des lauten Knalls, den das verursachte, zusammen.
„Wunderbar“, jubelte das Mädchen. „Ich habe die Post abgefangen. Mrs. Hendry hat uns heute zu einem Morgenbesuch eingeladen.“
„Wie schön“, murmelte Violet. Sie rieb sich die Schläfe.
„Ihr fühlt Euch unpässlich“, stellte Allegra fest, und Enttäuschung schwang in ihrer Stimme mit.
„Nur leichte Kopfschmerzen.“
Allegra straffte sich. „Ich besorge Euch von Mrs. Harvey Kopfschmerzpulver. Ihr werdet sehen, das hilft Euch sofort.“
Allegra lief aus dem Zimmer. Die Tür schlug hinter ihr zu, und der Krach provozierte einen scharfen Schmerz in Violets Kiefer. Sie seufzte und beschloss, in das kleine Esszimmer hinunterzugehen. Eine Tasse Tee schadete garantiert nicht. Gewiss wäre es verhängnisvoll, mit nüchternem Magen bei Mrs. Hendry zu erscheinen.
Im Speisezimmer fand sie Lucas vor, der sich hinter einer Zeitung verschanzt hatte. Er sah nicht einmal auf, als sie eintrat. Ihren Gruß erwiderte er zerstreut, sodass Violet nicht sicher war, ob er sie überhaupt wahrgenommen hatte.
Sie schloss ihre Hände um die Teetasse und trank langsam. Als sie merkte, dass ihr der Tee guttat, griff sie zu einer Scheibe Toast.
Allegra betrat den Raum. Ihre Augen leuchteten auf, als sie Violet entdeckte. „Da seid Ihr ja, Miss Delacroix.“ Sie hob ein kleines Papierbriefchen. „Das Kopfschmerzpulver. Mrs. Harvey wies mich an, das Mittel in den Tee zu rühren.“
Stumm hob Violet Allegra ihre Tasse entgegen. Sie schluckte die Medizin und hustete, als die letzten bitteren Tropfen ihre Kehle
Weitere Kostenlose Bücher