Masken - Unter magischer Herrschaft: Roman (German Edition)
einem kuscheligen Kätzchen konnte man den Tiger wirklich nicht vergleichen. Er war einfach nur schön … und gefährlich. Seine Augen wurden schmal, das Maul zuckte, dann klappte er seinen Rachen auf, ließ seine Zunge heraushängen und gähnte ausgiebig und lautlos. Dabei entblößte er vier spitze Eckzähne – todbringende Waffen. Ein einziger Biss würde genügen, um Tamir das Genick zu brechen. Ferins Blick fiel auf die mächtigen Pranken. Ein Schlag würde genügen.
»Er gähnt.« Jasta kicherte. »Anscheinend ist ihr Gedankenaustausch nicht sonderlich unterhaltsam.«
Ferin konnte die permanente Lebensgefahr, in der sie schwebten, nicht witzig finden. »Meinst du nicht, dass ihr hier alle ein wenig sorglos seid?«, stieß sie hervor.
»Wegen der Tiger? Ich nenne das überlegt, nicht sorglos. Was fändest du denn angemessen? Weglaufen? Oder etwa in panische Schreie ausbrechen?«
Das saß. Ferin schluckte hart. »Ich hatte eben … Angst«, murmelte sie. Die hatte sie noch.
»Angst. Du warst völlig aus dem Häuschen.« Der Spott war nicht zu überhören.
»Ist das so abwegig? Ich meine, es sind Tiger. « Ferin deutete zu den atmenden Skulpturen hinüber. »Hast du seine Reißzähne gesehen?«
Jasta verdrehte die Augen. »Natürlich. Aber schreien macht wenig Sinn, in der Nähe des Tigers empfiehlt es sich, ruhig zu bleiben.«
Das sagte sich so einfach. Es kostete sie ihre ganze Überwindung, hier neben Jasta zu sitzen und den Tiger zu betrachten, der immerhin gut zehn Schritt von ihr entfernt war. Was für ein Gefühl musste es erst sein, regungslos vor seinem Gebiss zu verharren, in dem Wissen, dass eine unbedachte Bewegung einen Angriff auslösen konnte. Sie bewunderte Tamir für seine Gelassenheit und seinen Mut. Todesmut.
»Außerdem«, ergänzte Jasta, »ist es bei dir ja völlig egal, womit du es zu tun hast. Hier könnte auch eine Schlange liegen. Du hättest vor allem Angst. Du bist feige.«
»Das ist nicht wahr!«
»Sieh dich doch an! Erst wagst du dich kaum aus der Hütte, und jetzt kauerst du hier, halb hinter mir versteckt, und traust dich nicht hinzuschauen. Und dann sieh dir Tamir an. Er sitzt direkt vor dem bösen Tiger und zuckt nicht mal mit der Wimper.«
Darauf wusste Ferin nichts zu erwidern. Jasta hatte wahrlich Talent, ihre wunden Punkte zu treffen. Ärger hämmerte in ihr, Ärger über Jasta, über sich selbst, über ihren fehlenden Mut. Sie wollte nicht mehr feige sein! Wütend kämpfte sie die Tränen nieder – irgendetwas musste sich ändern!
Tamir bewegte die Schultern und neigte den Kopf, was Jasta wieder zu einem Kichern veranlasste. »Scheint, als wäre ihr Gespräch beendet.«
Der Tiger schob die Pranken nach vorn und ließ sich auf die Erde plumpsen. Er streckte sich, bis sein Hinterteil hoch in die Luft ragte und sein Kopf die Vorderläufe berührte. Seine Tatzen weiteten sich und fuhren je vier sichelförmig gebogene Krallen aus. Wieder öffnete er das Maul zu einem herzhaften Gähnen. Dann erhob er sich, strich noch einmal um Tamir herum und trollte sich.
Ferin sank in sich zusammen. Der Tiger war weg. Der Druck fiel von ihr ab und hinterließ eine schwer begreifbare Leere. Sie fühlte sich, als hätte sie etwas verloren. Wie verwirrend! Sollte sie nicht vielmehr erleichtert darüber sein, dass die Gefahr endlich vorüber war?
Tamir war erschöpft zu Boden gesunken, Arme und Beine weit von sich gestreckt.
»Der Arme.« Jasta schüttelte mitleidig den Kopf. »Das war wohl sehr anstrengend für ihn.«
»Meinst du wirklich, dass sie miteinander gesprochen haben?«, wunderte sich Ferin.
»Was hätten sie sonst die ganze Zeit tun sollen?«
»Aber wie kann man denn mit einem Tiger sprechen?«
»Es ist kein richtiges Sprechen, sie vereinigen ihre Gedanken.«
Stöhnend quälte sich Tamir in die Höhe. Als er Ferin und Jasta bemerkte, huschte ein Lächeln über sein Gesicht, und er kam zu ihnen herüber. Es war ihm deutlich anzusehen, wie sehr ihn die durchwachte Nacht und das steife Sitzen strapaziert hatten. Sein Gang war schleppend, sein Brustkorb eingefallen, und unter seinen Augen vereinten sich tiefe Falten und violette Ringe.
»Na, ihr beiden«, sagte er und fuhr sich mit allen zehn Fingern durch sein stacheliges, weißblondes Haar. Er presste die Handballen gegen die Schläfen, atmete lange und begierig ein und ächzend wieder aus, als könnte er damit neue Kraft in seinen Körper pumpen. Resignierend ließ er die Hände sinken. »Ich schätze, ich
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