Maskenball
gewesen, dass selbst die Kollegen vom Nachtdienst noch ihren Spaß hatten.
»Und, was ist so schlimm daran? Ist schließlich Karneval. Da wird halt schon mal einer über den Durst getrunken. Solange alles im Rahmen bleibt, ist das schon okay.« Lisa sah ihn listig an. »Wird sowieso vorerst das letzte Mal sein, dass du Karneval unterwegs bist. Schließlich musst du dich um deine Familie kümmern, und demnächst will ich Karneval auch wieder aufs Sträßchen. Ist ja schließlich Altweiber.«
»Schon gut«, knurrte Frank, nur zum Schein böse.
»Frag Ecki doch, vielleicht hat er schon Karten für die Fete bestellt.«
Frank zuckte mit den Schultern. »Vermutlich.« Frank streckte sich. Das Frühstück hatte ihm gut getan. So könnte der Tag eigentlich immer beginnen. »Jetzt mal was ganz anderes. Du musst mir helfen. Bei einem Toten ist ein merkwürdiger Zettel aufgetaucht. Auf dem stehen die Worte ›die Blätter fallen‹. Das kann alles Mögliche bedeuten oder auch gar nichts.
Andererseits müssen wir jedem Hinweis und jeder Idee nachgehen. Schließlich war der Tote über und über mit Waldboden und Blättern beschmiert. Ecki hat die Worte bei google eingegeben und, was soll ich dir sagen, es sind die Anfangszeilen von einem Rilkegedicht.«
»Ja, und?« Nun ärgerte sich Lisa ein bisschen, dass wieder einmal ein Mord sich in ihre viel zu seltenen gemeinsamen Stunden zu drängen drohte. »Müssen wir jetzt darüber reden? Kannst du nicht wenigstens einmal für ein paar Minuten deinen Job vergessen?«
»Sorry, vergiss es.« Lisa hatte recht, das Thema hatte nichts an ihrem Frühstückstisch zu suchen.
»Schon gut, nun ist es ja sowieso schon auf dem Tisch. Was ist los mit dem Gedicht?« Lisa klang versöhnlich und musste niesen. Sie suchte in der Tasche ihrer Jogginghose nach einem Taschentuch.
»Ich weiß ja nicht, ob es von Bedeutung ist für unsere Ermittlungen. Aber du hast doch ein paar Gedichtbände in deiner Sammlung. Ist da auch Rilke dabei?«
»Ja, klar. Ich habe mir damals in Siegen eine ziemlich alte Rilkeausgabe bei einem Trödler gekauft. Warte.« Lisa stand auf und nahm den Stapel Papier mit zurück in ihr Arbeitszimmer. Frank hörte ein Rumoren und ein Murmeln, bis Lisa zurückkam und ihm triumphierend ein schmales Buch mit einem Jugendstileinband hinhielt. »Schlag die Seite mit dem Lesebändchen auf. Ich habe das Gedicht schon gefunden.«
Frank schlug die Seite auf und las still die Zeilen:
Die Blätter fallen, fallen wie von weit,
als welkten in den Himmeln ferne Gärten;
sie fallen mit verneinender Gebärde.
Und in den Nächten fällt die schwere Erde
aus allen Sternen in die Einsamkeit.
Wir alle fallen. Diese Hand da fällt.
Und sieh dir andre an: es ist in allen.
Und doch ist Einer, welcher dieses Fallen
unendlich sanft in seinen Händen hält.
»Das sagt mir gar nichts. Kannst du mir sagen, was Rilke damit meint?« Frank hielt Lisa das offene Buch hin.
Lisa hatte sich wieder auf ihren Platz gesetzt und las das kurze Rilkegedicht aufmerksam halblaut Zeile für Zeile. »Tja, so genau weiß ich das auch nicht. Es klingt so, als wolle Rilke deutlich machen, dass unser Leben endlich ist, aber es eine höhere Instanz gibt, die uns am Ende unser Zeit nicht alleine lässt und uns sanft in Händen hält. Blätter, das ist der Herbst des Lebens. Abgestorbene Blätter als Ende allen Seins. Der Baum hat den Blättern das Leben entzogen, um selbst überleben zu können.« Lisa sah Frank halb fragend und halb unsicher an. Mehr Assoziationen fielen ihr zu dem Gedicht auf die Schnelle nicht ein. »Ich finde das Gedicht sehr schön.«
Frank hatte sich darüber noch keine Gedanken gemacht. Gedichte hatten ihn bisher eher wenig interessiert. »Das Ende des Lebens. Also doch ein Irrer, der aus irgendeinem Grund Rentner umbringt. Oder ein Mediziner, der Leiden verkürzen und Gott spielen will. Es muss auf jeden Fall jemand sein, der gebildet ist. Wer kennt heute schon noch Rilke?«
Lisa sah ihn an. »Du meinst, der Täter ist ein Akademiker? Ein Schöngeist? Aber so jemand bringt doch keinen Menschen um.«
»Und was ist, wenn diesem sogenannten Schöngeist die Sicherung durchgebrannt ist? Er die Kontrolle über sich verloren hat oder zeitweise keinen Einfluss mehr hat auf sein eigenes Tun?«
»Was bedeutet das?«
»Was das bedeutet? Das bedeutet, dass er jederzeit das nächste Opfer suchen kann. Dass er immer wieder und überall zuschlagen kann. Was ist, wenn wir es mit einem Serientäter
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