MASKENBALL UM MITTERNACHT
schauen können, wenn sie sich mit fadenscheinigen Ausflüchten aus der Verantwortung gezogen hätte, empfahl es sich, klein beizugeben. Im Übrigen würde die alte Dame ohnehin nicht lockerlassen, bis sie ihre Zusage erhalten hätte.
„Dann müsste Callie notgedrungen einen Tag ohne mich auskommen“, versuchte Francesca zögernd einzuwenden.
„Na und?“ Lady Odelia ließ sich nicht beirren. „Das Haus ist voller Dienstboten, die sich um sie kümmern.“
„Nun gut.“ Francesca kapitulierte. „Ich begleite Sie nach Sevenoaks.“
„Ausgezeichnet!“ Lady Odelia strahlte. „Dann hole ich dich morgen um neun ab.“
„Um neun?“, wiederholte Francesca tonlos. „Am Morgen?“
„Natürlich am Morgen.“ Lady Odelia bedachte sie mit einem strafenden Blick. „Der Besuch dauert den ganzen Tag, also wollen wir zeitig aufbrechen.“
„Ja, natürlich.“
Nach erfüllter Mission verabschiedete Lady Pencully sich, zweifellos um einen anderen bedauernswerten Menschen um einen Gefallen zu bitten, dachte Francesca grimmig.
Sie begab sich nach oben, um Callie die Neuigkeit mitzuteilen. Diese begann sogleich zu kichern.
„Wie reizend, dass mein Pech dich erheitert“, beklagte Francesca sich leicht indigniert, war aber im Grunde froh, dass Callie wieder lachen konnte.
„Es tut mir aufrichtig leid“, entschuldigte Callie sich mit einem amüsierten Funkeln in den Augen. „Ich weiß, wie ärgerlich das für dich ist. Aber ich bin sehr froh, dass du mich überredet hast, die eingebildete Kranke zu spielen.“
„Das will ich dir auch geraten haben“, entgegnete Francesca, die sich ein Schmunzeln nicht verkneifen konnte. „Sonst hätte ich dich nämlich gezwungen, mich zu begleiten.“
Callie schüttelte sich in gespieltem Grauen.
„Willst du uns nicht trotzdem begleiten?“, neckte Francesca. „Wir könnten behaupten, du hättest dich erstaunlich rasch erholt. Du wirst dich nur schrecklich langweilen, den ganzen Tag allein zu sein.“
„Lieber einsam und allein, als einen halben Tag mit Lady Odelia eingezwängt in einer Kutsche zu verbringen“, entgegnete Callie herzlos. „Ob sie ihren grässlichen schnarchenden Hund mitnimmt?“
„Oh Gott, den uralten stinkenden Mops! Daran will ich gar nicht denken.“
Callie schüttelte sich vor Lachen über Francescas entsetztes Gesicht, und der Heiterkeitsausbruch verschaffte ihr ein wenig Befreiung von ihrem Kummer.
Sie wollte sich für den morgigen Tag eine Beschäftigung suchen, die sie von ihren trüben Gedanken ablenkte.
Gleich nach dem Frühstück klingelte Callie nach ihrer Zofe und verbrachte den Vormittag damit, ihren Schrank zu durchforsten, um das eine oder andere Kleid mit neuen Bändern oder Stoffblumen zu verzieren und ausgediente Stücke an Bedürftige zu verschenken.
Diese Tätigkeit dauerte allerdings nicht lange, da sie nicht ihre vollständige Garderobe für ihren Aufenthalt in London eingepackt und überdies erst vor Kurzem einige neue Kleider erstanden hatte. Zu Hause in Marcastle hätte sie möglicherweise noch im Speicher herumgestöbert, um unbrauchbare Dinge wegzuwerfen oder sich an alten Spielsachen zu erfreuen.
Um nicht wieder in altes Fahrwasser zu geraten und schmerzlichen Erinnerungen an Lord Bromwell nachzuhängen, begab sie sich in Francescas kleines Kabinett, um sich ein Buch auszuleihen. Vielleicht würde ihr die Lektüre eines Schauerromans von Ann Radcliffe Ablenkung verschaffen.
Sie stand vor dem Bücherschrank und studierte die Buchrücken, als Fenton eintrat. Seine sonst so stoische Miene war sorgenvoll zerfurcht. „Mylady …“
„Ja, Fenton, was gibt’s?“
„Draußen wartet ein Mann. Er sagt, er habe eine wichtige Nachricht für Sie. Er sagt, Mylady … seiner Gnaden, dem Duke, sei etwas zugestoßen.“
15. KAPITEL
Callie gefror das Blut in den Adern, sie starrte den Butler entgeistert an. „Was? Meinem Bruder?“
Sie drängte sich an Fenton vorbei in die Eingangshalle, wo ein Mann neben der Haustür stand und verlegen seinen Hut in den Händen drehte. Gesicht und Kleidung waren mit Staub bedeckt, die Stiefel lehmbespritzt. Er wirkte müde und erschöpft. Callie eilte ihm entgegen.
„Sie bringen mir Nachricht vom Duke of Rochford?“, fragte sie im Gehen. „Ist er verletzt?“
„Er ist am Leben, Mylady“, versicherte der Mann. „Er war in einen Unfall verwickelt. Hier ist ein Brief für Sie.“ Er hielt ihr ein versiegeltes Schreiben hin.
Callie nahm es entgegen und las die Adresse: An Lady
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