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Massiv: Solange mein Herz schlägt

Massiv: Solange mein Herz schlägt

Titel: Massiv: Solange mein Herz schlägt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Massiv mit Mariam Noori
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Zeitungen, am Bordstein klebenden Kaugummis. Eine Katze, rot wie ein Fuchs, schrie und machte einen Buckel, zwei Kinder spielten mit Wasserpistolen, eine dunkelhaarige Frau klopfte einen persischen Teppich aus, die Staubflocken landeten auf der Straße wie schmutziger Schnee. Der Himmel war makellos blau, nur zwei schmale Wolken wanderten am Himmel entlang wie Pilger auf ihrem Weg. Nichts an diesem Tag war ungewöhnlich – und doch sollte mich der heiße Sommertag des Jahres 1991 für immer verändern. Jeder Schritt fühlte sich schwer an, wie schon seit Wochen, wenn Mama und ich an Ampeln warteten, Zebrastreifen überquerten, durch Unterführungen gingen, um Yenges Wohnung zu erreichen. In meinem Magen machte sich ein flaues Gefühl breit. An diesem Tag war der Gang besonders qualvoll, es war, als wären meine Beine aus Blei. Am Abend zuvor hatte ich versucht, mit Baba zu reden. Er war zwar kein sonderlich guter Zuhörer, doch ich dachte, er würde mir helfen, wenn ich in ernsthaften Schwierigkeiten steckte. Schließlich war er mein Vater – er musste mir helfen. Ich verkündete, nie wieder zu Yenge gehen zu wollen. Doch als mein Vater nur ein abwesendes »Warum?« murmelte, blieb ich stumm. Wie sollte ich erklären, dass ich Angst vor einem Heranwachsenden hatte, der mich kitzelte? Wie sollte ich erklären, dass mir meine innere Stimme sagte, ich solle nie wieder dahin gehen. Wie sollte ich so etwas Baba klarmachen? Andererseits wurde mir bei dem Gedanken, zurück zu Serkan gehen zu müssen, schlecht. Die Wörter blieben mir wie trockenes Brot im Halse stecken. Ich war sprachlos.
    Ich fühlte mich verloren. Bevor ich antwortete – bevor ich antworten konnte  – und damit mein Leben vielleicht in eine andere Bahn gelenkt hätte, verließ mich der Mut. Stattdessen rollten mir Tränen der Hilflosigkeit über die Wangen, und schon hatte ich Babas Zorn gegen mich aufgebracht. Er warf mir einen angewiderten Blick zu und sagte: »Arabische Männer sind stolze Männer. Sie weinen nicht. Sie geben nicht auf. Sie sind bereit, für ihre Überzeugung zu sterben. Sie sind bereit, für ihre Heimat zu sterben.«
    »Welche Heimat, Baba?«, schniefte ich.
    »Palästina! Kennst du Tölpel nicht einmal deine eigene Heimat?«
    »Weiß nicht, Baba.«
    Ich kannte Palästina nicht. Ich kannte nur Deutschland, eigentlich nur Pirmasens, aber ich wäre niemals für Pirmasens gestorben. Baba wollte für Palästina sterben, obwohl er nie in Palästina war. Baba wollte für seine Überzeugung sterben, er wollte für eine Falafel sterben – und langsam fragte ich mich, ob es irgendetwas auf der Welt gab, für das Baba nicht sterben wollte. Warum mussten Erwachsene immer Reden halten – Reden, die keiner hören wollte? Auf Fragen gaben sie keine Antworten, doch wenn man keine Fragen hatte, bekam man gleich zehn Antworten. Baba tat das, was er immer tat, wenn er begriff, dass sein Sohn nicht der Sohn war, den er sich gewünscht hatte: Er rümpfte seine Nase.
    »Langsam beginne ich daran zu zweifeln, aus dir könnte irgendwann ein Mann werden. Du bist wie ein Körper ohne Geist, wie ein Stiefel ohne Sohle, wie ein Schlag ohne Kraft … dir fehlt irgendwas. Unglaublich, dass es mein Blut sein soll, das durch deine wässrigen Adern fließt.«
    Es war, als hätte ich in eine Steckdose gefasst. Ich ging in mein Zimmer, ließ meinen Tränen freien Lauf und schlug meinen Kopf vor Wut und Verzweiflung gegen die Wand. Ich sei dumm, winselte ich und spürte auf meinem Hinterkopf die dumpfen, selbst zugefügten Schläge, dumm, weil ich gedacht hatte, irgendjemand würde mir helfen wollen.
    Mama klingelte, Yenge machte die Tür auf. Sie wirkte kraftlos, und ich fragte mich, ob zu viel Schlaf müde macht. Mutter küsste mich zum Abschied und ging. In den letzten Wochen hatte ich einige Dinge über Yenge und ihre Söhne erfahren. Yenges Mann war vor drei Jahren gestorben. Ismail vermisste seinen Vater, Serkan nicht. Yenge traf sich mit einem neuen Mann und lebte von dem Witwengeld. Yenge beschimpfte ihre Söhne immer als faule Stinktiere. Sie hatte recht, Serkan und Ismail saßen den ganzen Tag vor dem Fernseher und sahen sich Zeichentrickfilme an. Doch Yenge war kein sonderlich gutes Vorbild, denn die meiste Zeit verbrachte sie ebenfalls vor der Glotze, und sie stand vielleicht auf, um zur Toilette zu gehen. Einmal am Tag machte sie Essen, immer dasselbe: Spiegelei, gekochte Kartoffeln mit einem Löffel Tsatsiki, dessen Beigeschmack so

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