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Massiv: Solange mein Herz schlägt

Massiv: Solange mein Herz schlägt

Titel: Massiv: Solange mein Herz schlägt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Massiv mit Mariam Noori
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fand ich unbehaglich. Ich spürte seine harte Gürtelschnalle unter meinem Gesäß.
    »Wir spielen nur«, flüsterte er. Mir gefiel dieses Spiel nicht. Ich fühlte mich unwohl und wollte wegrennen, doch sein Griff war fest wie ein Seemannsknoten. Ich hörte, wie ein Schlüssel im Schloss einrastete. Serkan stellte sich ruckartig auf, ich knallte unsanft auf den Boden. Er ging an das andere Ende des Zimmers. Ich spürte, wie meine Wangen glühten. Jemand schloss die Haustür auf. Serkan öffnete die Balkontür und ging raus. Yenge kam ins Zimmer.
    »Warum bist du so rot?«
    »Serkan hat mich gekitzelt.«
    »Ach, wie nett, dass er mit dir spielt.« Ich sagte nichts. Es war das erste Mal, dass jemand so mit mir gespielt hatte. Serkan beobachtete mich durch das Fenster. Er zog an einer Zigarette, Rauch kam aus seinem Mund. Ich wich seinen Blicken aus.
    Am Abend erlaubte mir Mama, Tony besuchen zu gehen. Ich beeilte mich, die Dämmerung war angebrochen, und ich musste zu Hause sein, bevor es dunkel wurde.
    »Was hast du bloß mit diesem Hund?«, fragte Mama, doch ich antwortete nicht. Zu sehr war ich mit den Gedanken bei dem, was Serkan mit mir gemacht hatte. Meine innere Stimme sagte mir: »Geh da bloß nicht mehr hin.« Doch ich wusste, es würde schwer werden, Mama und Baba zu überzeugen. Ich war noch ein Kind – Kinder hatten keine eigene Meinung, sie hatten keine Stimme und mussten tun, was die Eltern sagten. Eltern hören nie zu. Sie sind beschäftigt mit dem Stress auf der Arbeit, den unbezahlten Rechnungen, den Eheproblemen, bei all dem bleibt keine Zeit zuzuhören. Serkan hatte mich nur gekitzelt und auf seinen Schoß gesetzt – das war kein Verbrechen –, er hatte mich nicht verprügelt. Baba würde »Siehst du, mit dem stimmt etwas nicht« sagen. Mama würde ihm widersprechen und mir »Hör auf zu spinnen« ins Ohr flüstern. Meine Eltern waren taub für meine Sorgen und gingen davon aus, die Welt würde sich nur um ihre Probleme drehen.
    Ich versuchte, meine Gedanken beiseitezuschieben und redete mir ein, alles sei nur ein Hirngespinst. Ich stolperte über eine zerbrochene Flasche, vermutlich von einem der Amerikaner weggeworfen. Gegenüber war eine Kneipe, meistens betranken sich dort GIs und grölten die gesamte Nachbarschaft zusammen.
    Am Ende des Zweiten Weltkriegs besetzte die us-Armee Pirmasens. In der Woche der Toleranz hatte ich gelernt, dass es vor dem Weltkrieg eine jüdische Gemeinde in Pirmasens gegeben hatte. Viele waren aus Deutschland geflohen oder von den Nazis ermordet worden. Die GIs sollten vorübergehend bleiben, bis die Lage in Pirmasens stabilisiert war. Sie hatten eigene Wohnanlagen, Schulen, Geschäfte und einen Hubschrauberstützpunkt. Der Zweite Weltkrieg war über fünfzig Jahre her, und trotzdem lebten noch massenhaft Amerikaner, die in Uniformen durch die Straßen stolzierten, in dieser Provinzstadt. Einige Jahre später meinte Baba, die Amerikaner würden es sich gerne in fremden Ländern bequem machen.
    Endlich erreichte ich Ursulas Straße, schon im Treppenhaus hörte ich Tonys wedelnden Schwanz gegen die Wohnungstür hämmern. Tony wusste, dass ich da war – er wusste immer, wo ich war. Ursula öffnete die Tür und schnauzte: »Da bis’ ja endlich, der arme Köter winselt schon den ganzen Tag vor der Tür.« Ich kramte in meiner Tasche nach einem Knochen, Tony sprang mich an. Er war mittlerweile groß und schwer und ließ mich nach hinten taumeln. Ich landete auf meinem Hintern, und Tony leckte mein Ohr ab. Ein komisches Gefühl überkam mich. Ich stieß ihn zur Seite. Draußen warf ich einige Male einen angeknabberten Tennisball, war aber nicht ganz bei der Sache und entschloss mich, wieder nach Hause zu gehen. Plötzlich stellte sich mir jemand in den Weg und streckte mir die flache Hand vors Gesicht.
    »Halt! Das hier ist meine Straße! Zahlen oder klatschen?« Es war Mirac, ein Junge aus der Nachbarschaft, der in der Gegend genauso beliebt war wie die Pest.
    Er grinste schief und trat mit dem rechten Fuß gegen einen Stein, der mich treffsicher am Schienbein traf. Ich hatte immer versucht, Mirac aus dem Weg zu gehen. Wenn ich ihn am Ende der Straße sah, wechselte ich auf die andere Seite; begegnete ich ihm auf dem Nachhauseweg, ging ich in die andere Richtung und machte einen großen Bogen um ihn. Ich wusste, er war älter als ich. Seine schmalen Schultern, sein blasses Gesicht, die abstehenden Ohren und die gekrümmte Rabennase gaben ihm das Aussehen eines

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