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Massiv: Solange mein Herz schlägt

Massiv: Solange mein Herz schlägt

Titel: Massiv: Solange mein Herz schlägt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Massiv mit Mariam Noori
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gefrieren ließ. Ich fürchtete mich zu widersprechen, Serkan streckte die Hand aus, packte mich am Arm und warf mich auf das Bett. Ich lag auf der dunkelblauen Bettwäsche, die einen modrigen Geruch verbreitete. Ich war starr wie eine Statue.
    »Jetzt schau hoch zur Decke.« Ich sah hoch. Die Decke war schwarz gestrichen, und einige sternenförmige Aufkleber waren dort angebracht. Sie leuchteten im abgedunkelten Zimmer. »Schön«, hauchte ich leise, in der Hoffnung wieder aufstehen zu können. In Wahrheit scherte ich mich nicht um die Sterne und auch nicht mehr um den Löwen aus Glas, ich wollte nur noch weg und betete, Yenge möge endlich nach Hause kommen. Doch sie kam nicht. Keiner kam, um mir zu helfen.
    »Das habe ich nur für dich gemacht – eine Sternendecke – nur für dich.« Mein Herz klopfte laut. Ich wollte rennen, doch ich war wie festgefroren.
    »Ich möchte wieder ins Wohnzimmer.« Meine Stimme zitterte, dabei wollte ich mir meine Angst nicht anmerken lassen.
    »Ist dir nicht warm?« Serkan zog seinen Pullover aus.
    »Nein.« Ich wurde panisch. Serkan versuchte meinen Blick abzufangen, strich mir über das Gesicht. Ich wollte schreien, öffnete meine Lippen, schloss sie wieder und blieb stumm. Er lächelte. Ein kühles, seelenloses Lächeln. Ich spürte seinen Bart auf meiner Wange, meinem Hals, meinem Rücken. Harte Borsten rieben gegen meine Haut. Der fade Geruch von Spucke, alten Kippen und ranziger Milch blieb an mir haften. Eine Stimme in mir rief: »Lauf weg!« Doch wohin sollte ich laufen? Ich wusste nicht, was ich tun sollte … ich wollte schreien, doch meine Stimme versagte, sie ließ mich im Stich – so wie mich jeder im Stich gelassen hatte. Ich wehrte mich nicht – wenn man sich wehrte, wurde alles noch schlimmer. Und dann spürte ich, wie mein Herz für einen Moment aufhörte zu schlagen. Stille. Nur Serkans gleichmäßiges Atmen. Ich sah hoch, die leuchtenden Sterne verschwammen an der schwarzen Decke.
    Früher:
    Ich bin vier Jahre alt. Baba spielt Karten im Wohnzimmer. Freunde sind zu Besuch. Es kommt selten vor, dass er jemanden einlädt. Sie spielen Karten und trinken ungezuckerten Hibiskus-Tee. Der Kessel pfeift, ich renne hin, der Kessel dampft und tanzt auf der Herdplatte. Ich greife danach, aber ich komme nicht ran. Ich stelle mich auf Zehenspitzen und erwische den Griff des braunen Kessels. Doch er rutscht mir wie ein glatter Fisch aus der Hand. Die heiße Brühe läuft mir am Oberkörper herunter. Es brennt. Es schmerzt. Ich schreie. Baba spielt Karten. Heißes Wasser läuft mir den Bauch herunter. Die Hitze breitet sich überall auf meinem Körper aus. Es ist, als würde ich von innen verbrennen. Die Flüssigkeit tropft von meinen Oberschenkeln auf den Boden .
    Meine Mutter kommt von der Arbeit, sie hört mich schreien, eilt ins Zimmer – sieht an meinem verbrühten Körper herunter und wischt das heiße Wasser weg. Mama weint. Baba gewinnt die Partie. Ich werde ohnmächtig, falle in einen tiefen Schlaf und wache mit Narben wieder auf.
    Serkan stand auf. Er wischte sich Schweißperlen von der Stirn, sah mich nicht an, schloss die Tür auf, ging hinaus und nahm meine Kindheit mit. Ich blieb sitzen, unfähig mich zu rühren. Erst eine halbe Stunde später packte ich meine Sachen und rannte aus dem Zimmer. Ich fühlte mich zerrissen, als hätte man mich in zwei Teile gespalten. Ich fühlte mich schmutzig, als hätte ich wochenlang nicht gebadet. Ich fühlte mich wie ein Anderer, ein Kind im falschen Körper. Ich wollte aus diesem Körper raus, ich wollte eine Schlange sein, die ihre alte Haut abstreift. Wortlos ging ich hinaus, übergab mich im Treppenhaus in einen Blumentopf, in dem eine Kunstpalme steckte, und wischte mir die Spuckreste aus dem Gesicht. Draußen blendete mich das grelle Licht, ich zitterte am ganzen Leib. Als ich von Weitem Yenge und Ismail sah, versteckte ich mich hinter einem Baum. Irgendwann kam meine Mutter, ich ging auf sie zu.
    »Warum bist du hier unten?« Sie küsste mich auf die Stirn, ich wich aus und ging wortlos voraus. Zu Hause angekommen fühlte ich mich wie narkotisiert. Ich kroch unter meine Decke, drückte auf Play und stellte mir vor, ein Eisbär in der Arktis zu sein. Ein Eisbär, der von Eisscholle zu Eisscholle sprang, mutterseelenallein in einem Iglu lebte, ein dickes Fell und scharfe Zähne hatte und jeden zerfleischen konnte, der ihm in die Quere kam. Meine Augen fielen zu, ich schlief ein und träumte von der eisigen Arktis.

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