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Massiv: Solange mein Herz schlägt

Massiv: Solange mein Herz schlägt

Titel: Massiv: Solange mein Herz schlägt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Massiv mit Mariam Noori
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Jungen, der beim Völkerball immer als Letzter gewählt wurde. Er hatte den Ruf, der gemeinste Junge der Stadt zu sein, Kinder machten sich bei seinem Anblick in die Hosen, und Jugendliche liefen davon, wenn er ihre Wege kreuzte. Man erzählte sich im Schulhof, Mirac hätte einem anderen Jungen den Finger abgebissen, als der sich weigerte, seine »Miete« zu zahlen, wie Mirac die Bezahlung dafür nannte, seine Straße passieren zu dürfen. Als Zahlungsmittel akzeptierte er Geld, Pausenbrote und alles andere, was ein Kind bei sich führen konnte.
    Ich wusste nicht, ob Mirac jemanden schon mal den Finger durchgebissen hatte. Er wirkte nicht wie ein Junge, der genug Kraft aufbringen konnte, Knochen durchzubeißen; seine fauligen Zähnen sahen nicht einmal so aus, als könnten sie eine Karotte zerteilen. Ein anderes Mal hatte ich gehört, Mirac hätte sich gleichzeitig mit Zwillingen geprügelt, ihre Köpfe gegeneinander geschlagen und ihre Nasen zum Bluten gebracht. Ich wusste nicht, ob sich Mirac mit Zwillingen prügeln konnte, seine Arme waren schmal wie Strohhalme. Insgesamt wusste ich nicht viel über Mirac, ich kannte nur seinen Ruf, der ihm immer vorauseilte und mir die Knie zittern ließ. Ich fragte mich, was ich wohl für einen Ruf hatte. Vielleicht der ängstlichste Junge weit und breit zu sein. Wahrscheinlich hatte ich überhaupt keinen Ruf, ich war ein Niemand, ich war unsichtbar. Und wer verbreitet schon Gerüchte über einen unsichtbaren Niemand?
    »Ich habe nichts«, piepste ich und ärgerte mich über meine hohe Stimme.
    »Was’n los, hast’n Küken zum Frühstück gegessen?« Mirac krümmte sich vor Lachen.
    »Taschen zeigen«, befahl er. Ich leerte meine Taschen aus, außer einem alten Kaugummi, Kekskrümeln und Tonys Leckerlis waren meine Hosentaschen leer.
    »Da ist ja wirklich nichts, ein ehrlicher Vogelfresser also.« Er kreuzte die Arme und sagte in einem selbstgefälligen Ton: »Dann eben klatschen, nächstens Mal hast du gefälligst was dabei, wenn du in meine Straße kommst.« Er spuckte sich in die rechte Hand, und bevor ich ausweichen oder etwas rufen konnte, landete seine nasse Handfläche geräuschvoll auf meiner linken Gesichtshälfte. Ich wünschte, er hätte das nicht getan. Tony, der sich minutenlang mit seinem Knochen beschäftigt hatte, schreckte hoch, stellte die Ohren auf und guckte in unsere Richtung. Er knurrte und fletschte die Zähne. Mirac blieb wie angewurzelt stehen.
    »Ist das dein Köter?«, stotterte er, als Tony losrannte. In wenigen Sekunden hatte er uns erreicht, er sprang hoch und biss in Miracs Arm. Mirac kippte nach hinten und schrie, Tony reagierte nicht auf meine Kommandos, seine Augen blitzten auf. Nur mit viel Kraft schaffte ich es, sein Gebiss aus Miracs Unterarm zu lösen. Abwechselnd brüllte Mirac vor Schmerzen und starrte benommen auf seinen blutenden Arm. Ich zog an Tonys Halsband und rannte davon. Ich versteckte mich mit ihm im nahe gelegenen Treppenhaus, bis die Gefahr vorüber war. Ich hatte nicht vor, ihn an die Polizei zu übergeben, die ihn einschläfern lassen würde, nur weil er mich beschützen wollte. Ich legte meinen Arm um Tony, der friedlich eingeschlummert war.
    »Keiner ist mutiger als du.« Ich streichelte seinen Kopf und stellte mir vor, wie Tony wohl als Mensch gewesen wäre: ein Draufgänger, ein Kämpfer mit einem treuen Herzen, ein loyaler Freund – und damit alles, was ich nicht war.
    Tony hatte mich schon zwei Mal vor meinen Feinden verteidigt. Er war an meiner Seite, wenn ich besonders litt, wenn meine Eltern stritten, mir keiner zuhörte und Dinge mit mir geschahen, auf die ich keinen Einfluss nehmen konnte. Tony war wie ein Rettungsboot auf hoher See, das mich davor bewahrte, unterzugehen oder von den Haien gefressen zu werden. Ich dankte Gott, einen solchen Freund zu haben. Krankenhaussirenen ertönten, ich konnte die blauen Lichter durch das dicke Milchglas sehen. Erst zwei Stunden später traute ich mich aus dem Treppenhaus heraus und brachte Tony zu Ursula zurück. Zu Hause angekommen, klingelte ich an der Tür, Baba machte auf und verpasste mir eine schallende Ohrfeige. Mama weinte und rief: »Wo warst du?« Baba drohte: »Das war’s mit den Hundespielchen!« Ich ging ohne Abendbrot und mit einem vor lauter Ohrfeigen brennenden Gesicht ins Bett.

KAPITEL 6
Eine gestohlene Kindheit
Die Hölle ist leer, und alle Teufel sind hier!
William Shakespeare,
Der Sturm
    Der Weg war voll von alten Bierflaschen, Scherben, zerfetzten

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