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Massiv: Solange mein Herz schlägt

Massiv: Solange mein Herz schlägt

Titel: Massiv: Solange mein Herz schlägt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Massiv mit Mariam Noori
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hartnäckig war, dass man ihn noch nach zweimal Zähneputzen im Munde hatte. Eltern erwarteten immer Dinge von ihren Kindern, die sie selbst nie erfüllten. Wie sollten Kinder zu guten Erwachsenen reifen, wenn sie schlechte Eltern als Vorbilder hatten? Trotzdem war ich glücklich, wenn Yenge und Ismail zu Hause waren – Serkan wollte nur mit mir spielen, wenn wir alleine waren. In fünf Wochen hatte er immer dasselbe Spiel mit mir gespielt. Kitzeln, küssen, auf den Schoß setzen. Ich hasste dieses Spiel. Einmal erwischte Ismail uns beim Spielen und brüllte Serkan an, mich sofort runterzulassen. Er fragte verzweifelt, ob er schwul sei oder warum er das sonst immer mit kleinen Jungen machte. Ismail war ganz aufgelöst, er sagte, es sei Haram , eine Sünde, und er würde es seiner Mutter erzählen. Serkan stand auf, schlug seinem Bruder mit der Faust ins Gesicht. Danach sagte Ismail nie wieder etwas. Ich setzte mich auch an diesem Tag zu Yenges Söhnen auf die Couch vor dem Fernseher. Irgendwann rief Yenge Ismail, er stand auf und hinterließ eine Kerbe im durchgesessenen Sofa.
    »Wir müssen die Einkäufe erledigen, danach zum Amt. Serkan passt auf dich auf. Essen steht auf dem Herd.« Yenge und Ismail gingen.
    Ich schluckte, knetete meine Finger, sah nicht hoch und versuchte Serkans durchdringendem Blick auszuweichen. Es vergingen Minuten, die mir wie Stunden vorkamen. Serkan stand auf, ging in die Küche und kam mit einer Dose Cola zurück. Er öffnete die Dose, es zischte. »Hier, für dich«, sagte er und reichte mir die Cola. Er lächelte, einer seiner Schneidezähne fehlte. Ich lächelte nicht.
    »Danke«, murmelte ich und nahm die kalte Dose in die Hand. Ich trank einen Schluck, es prickelte in meinem Hals und schmeckte herrlich süß. Serkan legte eine Kassette in den Rekorder, es ertönte weihnachtliche Musik, Ho, ho, ho und Glockenklang. Ich fand es unpassend, Weihnachtsmusik im Hochsommer zu hören. Doch alles an Serkan war unpassend, sein Pyjama, der Schnauzer und die Spiele, die er mit mir spielte. Das Sonnenlicht schien durch die Fenster, Serkan kam zu mir rüber, mein Körper wurde ganz starr. Er hockte sich neben mich hin und flüsterte: »Ich hab was für dich, Kleiner.« Seine leise Stimme, die immer einen kindlichen Unterton annahm, wenn er zu mir sprach, war zum Gruseln. Er stand auf und griff nach einem Kristallfigürchen aus der Vitrine.
    »Willst du das haben?« In seiner Hand hatte er einen kleinen Löwen aus Glas – Löwen waren meine Lieblingstiere. Die Figur sah sehr wertvoll aus – natürlich wollte ich sie haben. Dabei durfte ich keine Geschenke annehmen, außerdem machte mir Serkan eine Heidenangst. Ich zögerte. Dann dachte ich aber, wie schön es wäre, die Figur in meinem Zimmer zu haben, wie sie das Sonnenlicht reflektieren und aussehen würde wie ein kostbarer Diamant. Ich nahm das Geschenk an und freute mich wie an keinem Tag zuvor.
    So ist es bei Kindern: Ihr Wille ist leicht zu brechen – schon ein Funke der Freundlichkeit entzündet die Flamme des Vertrauens.
    »Komm, ich zeige dir mein Zimmer.« Serkan winkte freundlich, ich blieb sitzen. »Willst du nicht?« Ich wollte nicht. Ich bereute schon wieder, die Figur angenommen zu haben.
    »Ich möchte lieber fernsehen.«
    »Aber ich habe dort noch ein Geschenk für dich, Kleiner.« Ich wurde neugierig und schaute hoch. »Viel besser als das erste Geschenk, aber wenn du es nicht willst, schenke ich es meinem anderen kleinen Freund.«
    Vielleicht war Serkan einfach nur nett, dachte ich mir, vielleicht wollte er einfach nur spielen und mir Geschenke machen, vielleicht war er ein Kind im Körper eines Erwachsenen. Es schien mein Glückstag zu sein, das musste ich doch ausnutzen. Ich folgte ihm ins Zimmer. Dort stand ein kleines Bett, zerknüllte Kleidung, zerkratzte CDs, alte Sportschuhe lagen herum, die Wände waren vollgekritzelt. Er ging zum Fenster und zog die Gardinen zu. Er ging zur Tür und schloss das Zimmer ab. Ich hasste verschlossene Türen. Das deutete immer darauf hin, dass einer mit einem anderen etwas tun wollte, was keiner sehen durfte.
    »Leg dich hin.« Er zeigte auf das Bett. Ich rührte mich nicht.
    »Keine Sorge, ich will dir nicht wehtun. Nur so kannst du die Überraschung sehen.« Ich wollte nicht und blieb wie versteinert sitzen.
    »Sei nicht unfreundlich, Kleiner. Ich mag es nicht, wenn du unfreundlich bist.« Serkan sagte das mit einer Kälte in der Stimme, die mir das wässrige Blut in den Adern

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