Massiv: Solange mein Herz schlägt
angeblich gesehen, wie Außerirdische sie mitgenommen hatten, weil sie eine Wahrsagerin war und Aliens Wahrsagerinnen gut gebrauchen konnten. Er hatte kein einziges Bild von seiner Mutter und keine Ahnung, wie sie aussah, roch oder was für ein Mensch sie war. Er wusste nur, dass sie den Ruf hatte, die Zukunft voraussehen zu können, und in einem Kaff wie Pirmasens sprach sich so etwas schnell herum. Viele Menschen kamen zu ihr, wenn sie in schwierigen Zeiten einen Rat benötigten. Mirac sagte immer, er hätte die Gabe, mit Außerirdischen zu sprechen, womöglich von seiner Mutter geerbt. Dann schwieg ich immer, weil man niemanden beleidigen sollte, der keine Mutter mehr hatte.
Einmal nannte Miracs Vater seine Mutter eine läufige Hündin und die schlechteste Wahrsagerin der Welt, weil sie nicht vorausgesehen hatte, dass sie einen Hundesohn zur Welt bringen würde. Er meinte, sie sei davongelaufen, als sie in Miracs Gesicht gesehen und festgestellt hätte, den hässlichsten Jungen weit und breit geboren zu haben. Mirac verpasste seinem Vater eine Ohrfeige, denn keiner beleidigte seine Mutter, auch nicht sein Vater. Und es war egal, dass Mirac seine Mutter nicht kannte und nicht wusste, wie sie aussah oder roch. Mirac verteilte immer Ohrfeigen: seinem Schulleiter, als der ihn aus der Schule warf, einer Sozialarbeiterin, weil sie ihn einen hoffnungslosen Fall genannt hatte, und einem Zirkusaffen, weil er ihm in die Hand gebissen hatte. Sein Vater wich zurück und nuckelte weiter an seiner Bierflasche. Später verdrückte Mirac einige Tränen und fragte mich, ob er vielleicht wirklich der Grund dafür sei, dass seine Mutter weg war. Ich legte tröstend meinen Arm um ihn: Wenn überhaupt, sei sein Vater daran schuld. Mirac ließ den Kopf hängen, und schnell fügte ich hinzu, dass ich mir sicher sei, seine Mutter wäre von den Aliens mitgenommen worden, weil sie einen Jungen wie Mirac niemals freiwillig verlassen hätte. Seine Augen leuchteten auf, und zum ersten Mal begriff ich, warum es manchmal besser war zu lügen – die Wahrheit konnte einem das Herz in Stücke reißen.
»Komm jetzt, wir haben kaum noch Zeit.« Ich folgte ihm, obwohl ich lieber in meinem warmen Bett geblieben wäre, anstatt irgendwelchen Aliens nachzujagen.
»Wohin gehen wir? Ich bin müde.«
»Zum Wald … und psst – ich muss mich konzentrieren.«
Ich stöhnte und bemerkte einen robusten Seemannsstrick, den sich Mirac um die Schulter gebunden hatte. Was hatte er schon wieder vor?
»Wir sind da. Bleib genau hier stehen.«
Umgeben von Dunkelheit, Kälte und kahlen Bäumen standen wir mutterseelenalleine im Waldstück.
Ich konnte mir schon denken, was kommen würde: warten bis die Sonne aufging, weil Außerirdische angeblich nur bei Sonnenaufgang kommen würden, nur um dann wieder einmal festzustellen, dass außer einigen Eichhörnchen und Vögeln niemand im Wald war. Mirac war vielleicht verrückt, aber sein Glaube an sich selbst verlieh ihm eine Kraft, von der Normalos nur träumen konnten, und ich hatte schon als Kind eine Schwäche für Menschen mit einem unerschütterlichen Selbstvertrauen gehabt.
»Lass uns nach Hause gehen, Mirac, heute kommt niemand.«
»Ich weiß. Heute nicht. Heute habe ich etwas anderes vor.«
Noch bevor ich etwas sagen konnte, ließ er seinen Akkuschrauber fallen und kletterte einen Baum hoch. Ich fragte mich, ob er sich wieder vom Baum fallen lassen würde. Das war nichts Ungewöhnliches. Mirac ließ sich von Bäumen, Tischen, einmal sogar von einer Brücke ins eiskalte Wasser fallen. Er sagte immer, er sei ein Tiger und nichts könne einem Tiger Angst einjagen. Ich wusste nicht, ob Mirac etwas von einem Tiger hatte, aber ich war mir sicher, dass er die sieben Leben einer Katze hatte. Bei jedem Anlass berichtete er stolz, wie er schon drei Mal knapp dem Tod entkommen sei.
Einmal hatte er meiner Mutter erzählt, er sei von einem Blitz getroffen worden, als er an einem stürmischen Nachmittag über ein weites Feld ging. Mama glaubte ihm kein Wort, denn die Wahrscheinlichkeit, von einem Blitz getroffen zu werden, war gerade mal so hoch wie ein möglicher Lottogewinn, aber die Wahrscheinlichkeit, so einen Blitzschlag unbeschadet zu überleben, war noch viel niedriger. Mirac sagte dann: »Ich schwöre es, Tante, ich habe nur wegen dieser Schuhe überlebt.« Er zeigte auf seine Schuhe, an dessen Sohlen Reste eines Gartenschlauchs befestigt waren. Mama wunderte sich, warum Mirac Gartenschlauch an den Sohlen
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