Massiv: Solange mein Herz schlägt
hatte, und Mirac erklärte, seine Schuhe seien schon vor Jahren kaputtgegangen, doch sein Vater vertrank lieber das Geld vom Amt, als seinem Sohn neue Schuhe zu kaufen. Deshalb zerkleinerte sein Vater einen Gartenschlauch, den er einem Nachbarn gestohlen hatte, und flickte Miracs Sohlen damit wieder zusammen.
Endlich kannte ich den Grund, warum es sich immer anhörte, als würden Reifen quietschen, wenn Mirac den Weg entlangging. Mirac sagte stolz, das viele Gummi unter den Sohlen habe den Blitz abgeleitet.
»Seither trage ich diese Schuhe jeden Tag – man weiß nie, wann der Blitz ein zweites Mal einschlägt.« Mirac zwinkerte, und Mama rollte die Augen, weil ich einen Freund gefunden hatte, der noch merkwürdiger war als ich.
Als Mirac an der höchsten Stelle des Baumes angelangt war, sprang er von Ast zu Ast, als wäre er Tarzan. Er nahm das Seil von seinen Schultern und befestigte es an einem der Äste über ihm, machte einen festen Knoten um das eine Ende, während er das andere zu einer Schlaufe zusammenband. Eine dunkle Vorahnung überkam mich. Er hatte doch nicht etwa vor …
»Der Tag ist gekommen. Heute gehe ich zu meiner Mutter.« Er stand aufrecht auf dem tragenden Ast, ohne sich abzustützen, ganz so, als wäre er auf einem Baum zur Welt gekommen. Langsam, aber bestimmt legte er sich den Strick um den Hals.
»Bist du verrückt geworden? Komm da sofort runter, du Arschloch!«
»Du wirst Zeuge eines wichtigen Ereignisses. Du hast die Ehre dabei zu sein, wenn sie mich heute holen.«
»Scheiß auf dich und deine Aliens, komm runter, Mann!«
Ich wusste nicht, ob Mirac bluffte oder vollkommen den Verstand verloren hatte. Was, wenn er sich fallen ließe? Wie sollte ich das allen erklären? Vielleicht würden die Leute sagen: »Ach, der hatte sowieso nicht alle Tassen im Schrank.« Ganz egal, was alle sagen würden, Mirac war mein Freund, und ich konnte meinen Freund nicht sterben lassen. Nicht noch einmal.
»Bitte Mirac, komm da runter. Wir fahren auch zusammen auf die nächste Lesung von Erich van Däniken. Bitte komm da runter!«
Ich flehte ihn an, aber er sah mir in die Augen, band den Strick enger – und ließ sich fallen.
Ich schrie, schloss meine Augen und betete, der Ast würde brechen, doch als ich meine Lider vorsichtig öffnete, sah ich nur Miracs zuckenden Körper wie Christbaumschmuck herumbaumeln. Ich nahm Anlauf und versuchte, den Baum hochzukommen, doch meine Finger blieben in einer Gabelung stecken. Ich zog meine Hand raus und riss mir dabei einen Fingernagel ein. Ich unternahm erneut einen Versuch, wieder erfolglos, taumelte zurück und landete auf meinem Hintern. Sekundenlang traute ich mich nicht, nach oben zu sehen, stattdessen rief ich immer wieder Miracs Namen. Keine Antwort. Der Baum schien unbezwingbar zu sein. Ich fragte mich wütend, wie dieser Verrückte es geschafft hatte, diesen verdammten Baum hochzukommen. Plötzlich hörte ich ein Knacken, der Ast brach in der Mitte durch, und Mirac fiel wie ein reifer Apfel herunter. Sein Körper gab bei dem Aufprall einen dumpfen Laut von sich, er landete auf dem Rücken, und ich war mir sicher, er wäre tot oder für den Rest seines Lebens gelähmt. Ich rannte zu ihm, zog die Schlinge über seinen Kopf und sah den rosigen Abdruck des Seils auf seinem blassen Hals. Ich presste meine Hand auf seine Brust, horchte, ob sein Herz noch schlug, und tat alles Mögliche, was ich in Spielfilmen gesehen hatte, wenn Leute Verletzten Erste Hilfe leisteten. Ich schaute mich um, doch an diesem verlassenen Ort war weit und breit keine Menschenseele zu sehen. Panik überkam mich, ich begann am ganzen Körper zu zittern.
»Du verrückter Idiot!«, schrie ich Mirac an, doch der rührte sich nicht. Er lag da wie ein Leichnam vor der Einbalsamierung, und ohne es zu wollen, gingen mir Bilder seiner Beerdigung durch den Kopf: ein Sarg, der nachts leuchtete, das hätte er gewollt, sein Vater würde mit einer Flasche Bier und einem aufgesetzten, traurigen Gesichtsausdruck am Grab stehen, anstatt Blumen würde er seine Katze Luci mitbringen, weil er diese verdammte Katze überallhin mitnahm. Dabei war sie ein tümpelfarbener Läuseteppich auf vier Pfoten mit einem von Bissspuren gezeichneten Fell und überhaupt die hässlichste Katze von ganz Pirmasens.
Trotzdem schleppte Miracs Vater dieses Ungetüm überallhin mit, führte es wie einen Hund an einer Leine und kaufte ihr ständig frischen Fisch, während Mirac nur Dosenfutter bekam. Viele würden
Weitere Kostenlose Bücher