Massiv: Solange mein Herz schlägt
Uhrzeit alleine durch die dunklen Gassen – er war wohl ein Junge, um den sich niemand sorgte. Mirac war alles andere als furchteinflößend. Ich hatte Serkan, Schwester Birgitta und Baba überlebt und meinen Freund ermordet, was hatte ich noch von so einer Hühnerbrust zu befürchten?
Ich verschränkte meine Arme vor der Brust und erklärte dem Möchtegern-Gangster in frechem Ton: »Gar nichts werde ich tun.« Miracs Gesicht war mit einem Mal wie festgefroren, er war fassungslos, dass einer wie ich ihm die Stirn bot. Seine Augen funkelten vor Zorn, mit einem Mal stürzte er sich auf mich und schlug mit den Fäusten wild um sich. Für gewöhnlich hätte ich mich wie ein Opossum tot gestellt und auf mich einprügeln lassen, aber irgendwas in mir hatte sich verändert. Mit einer Kraft, von der ich gar nicht wusste, dass sie in mir steckte, packte ich Mirac am Hals und wirbelte ihn herum. Ich schlug mit meiner Faust auf sein Gesicht ein, immer und immer wieder. Plötzlich war es Mirac, der unter mir lag und mich mit demselben bettelnden Blick ansah, den ich zu Genüge von mir selbst kannte. Mein Blut kochte, es fühlte sich heiß und nicht mehr wässrig an. Mirac lief das Blut aus der Nase wie aus einem offenen Wasserhahn. Ich stand auf, klopfte den Dreck von meiner Hose und machte mich auf den Weg nach Hause. Ich drehte mich nicht einmal um, weil ich wusste, Mirac würde mir nicht folgen, denn er hatte dieses Feuer in meinen Augen gesehen. Der Knoten war weg, die Brust drückte nicht mehr. Aber da war ein anderes Gefühl, ein neues Gefühl – eine Mordswut in meinem Bauch.
Drei Wochen später begegneten wir uns erneut. Er kam auf mich zu, und ich war bereit zu kämpfen, aber Mirac sagte nur: »Dein Köter hat mir fast den Arm abgebissen, und du mir die Nase gebrochen, jahu!« Er lachte, und ich wunderte mich, weil Mirac noch verrückter zu sein schien, als ich es angenommen hatte.
»Wo ist dein Köter überhaupt?«
»Was geht dich das an?«
»Ganz ruhig.«
»Was willst du?«
»Arbeitest du?«
»Ich bin erst dreizehn.«
»Na und. Ich habe schon mit acht gearbeitet.«
»Aha, und wo hast du gearbeitet?«
»Überall. Arbeit und Geld liegen auf der Straße.«
Ich erwiderte nichts, denn ich hatte keine Ahnung, wovon er redete.
»Komm mit, ich zeig’s dir.« Mirac nahm mich mit und machte mich damit zu seinem Freund. Er brachte mir bei, mit einem Dosenöffner Schlösser zu knacken. Er zeigte mir, dass ein Akkuschrauber alles öffnen konnte – Schlösser, Eingangstüren, Autotüren – und das beste Werkzeug auf der Straße war. Wir lauerten vor Getränkelagerhallen und warteten, bis die Mitarbeiter wegschauten. Dann klauten wir Pfandflaschen, um sie später an derselben Stelle wieder abzugeben. Einmal ging ich in die Spielwarenabteilung eines Geschäftes und nahm ein menschengroßes Tyrannosaurus-Rex-Kuscheltier mit. Ich riss das Etikett ab und trug es mit beiden Händen aus dem Laden, ganz so, als hätte ich es gerade gekauft. Die Verkäuferinnen winkten mir herzlich zu und meinten, ich sähe mit dem Dinosaurier unterm Arm ganz goldig aus. Amani gluckste vor Freude über ihr riesiges Geburtstagsgeschenk. Mama hob die Augenbrauen und fragte, woher ich einen menschengroßen Dinosaurier habe, und ich antwortete, ich hätte ihn auf dem Rummel gewonnen. Ein anderes Mal gingen wir zum Supermarkt und machten zwei Einkaufstüten voll mit Schokolade, Chips und Cola, gingen damit an die Kasse und fragten die Verkäuferin, ob wir alles, was in den Tüten war, umtauschen könnten. Sie schaute uns verdutzt an und verneinte, dann zuckten wir mit den Achseln und verließen den Supermarkt. Draußen konnte ich kaum glauben, wie einfach es war, an das zu kommen, was man brauchte – man musste es sich einfach nehmen. Je dreister ich wurde, desto mehr konnte ich unbemerkt stehlen. Wir machten uns keine Sorgen, erwischt zu werden, denn wenn man Angst hatte, erwischt zu werden, wurde man erwischt. Mirac und ich klauten alles, was man zum Leben so brauchte: Süßigkeiten, Spielzeug, CDs, Kleidung, Stifte, Hefte, Barbies für Amani, Parfüm für Mama. Einiges verscherbelten wir weiter, anderes behielten wir selbst. Wir brachen in Schuhfabriken ein, klauten Faxgeräte, sogar Bürostühle, die wir dann auf Flohmärkten weiterverkauften.
Von meinem ersten ersparten Geld kaufte ich mir ein neues Paar Markenturnschuhe, denn Schuhe verrieten schon von Weitem, wie arm man war. Zu Hause geriet ich in Erklärungsnot, denn von einem
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