Matharis Kinder (German Edition)
noch auf ihn. In der Mitte beim Feuer stand der Meister und blickte dem Nachzügler entgegen.
Das Gemurmel verstummte.
Nachdem sich Torian in der hintersten Reihe niedergelassen hatte, fühlte er den Blick des Meisters auf sich ruhen. Sie waren ihm unangenehm, diese auf seinen Scheitel gerichteten, auf seine Schädeldecke brennenden Augen. Und sie machten ihm Angst.
Endlich löste der Meister seinen Blick von ihm und begann zu den Versammelten zu sprechen. „Brüder und Schwestern, ich habe euch zusammenrufen lassen, weil wir jetzt über unser zukünftiges Leben und Arbeiten beschließen müssen. Wir wissen, dass in weiten Teilen unserer Heimat die gesamte Ernte ver nichtet wurde. Mit ihr auch fast alle Mathari-Blumen. Seit heute Mittag ist es nun gewiss, dass durch die Unwetter auch alle unsere Pflanzungen vernichtet worden sind. Das bedeutet, dass es in der kommenden Zeit in ganz Peona kaum noch Mathari-Blumen geben wird. Wir alle wissen, was das bedeutet.“
Ja, das wussten sie. Selbst die Kleinsten der Über lebenden wussten es. In absehbarer Zeit würde der größte Teil der Menschen, die das Unglück überlebt hatten, verhungern. Dabei spielte es keine Rolle, ob es sich dabei um Blumenhüter oder Bürgersleute handelte. Natürlich würden die Bauern eine neue Saat ausbringen, sobald das Wasser gesunken und die Erde abgetrocknet war. Doch ohne Mathari-Blumen würde diese Saat niemals aufgehen können. Die Körner waren dazu verurteilt, in der Erde zu verfaulen, bevor sie überhaupt zum Leben erwachen konnten.
Der Meister wartete, bis auch der letzte Zuhörer die Bedeutung seiner Worte begriffen hatte. Dann fuhr er fort: „Ja, es ist so weit. Wir müssen uns eingestehen, dass wir unsere Aufgabe nicht mehr aus eigener Kraft erfüllen können. Das bedeutet, wir müssen um Hilfe bitten.“
Einige Augenbrauenpaare hoben sich erstaunt. Um Hilfe bitten? Ja, von wem denn? Auf der einen Seite von Peona war nichts als das offene Meer, und auf der anderen Seite ... nein, daran konnte er nicht ernsthaft gedacht haben! Oder etwa doch?
Wieder wartete der Meister eine Weile, bevor er seine Rede fortsetzte.
„Wir können keine Schiffe über das Meer schicken. Das würde zu lange dauern. Aber ich weiß, dass unsere Nachbarn im Westen von den Überschwemmungen weitgehend verschont geblieben sind. Ich werde einige von euch dorthin entsenden. Sie sollen unsere Brüder und Schwestern um Hilfe bitten. Ich bin überzeugt, sie werden alles tun, um uns beizustehen.“
In den emporgereckten Gesichtern malte sich Er schrecken.
Sie hatten richtig geraten! An der westlichen Grenze von Peona türmte sich das Kari-Gebirge in den Himmel. Und dahinter lag Lopunien.
Lopunien! Seit Generationen hatte kein peonischer Blumenhüter mehr den Boden dieses Landes betreten. Natürlich hatte niemand etwas gegen die Brüder und Schwestern dort. Blumenhüter hegten auf der ganzen Welt freundschaftliche Gefühle füreinander. Doch Lopunien wurde beherrscht von einem Tyrannen, der seine ganze Macht daran setzte, alle Blumen in seinem Land auszurotten. Ebenso hasste er die Blumenhüter. Seine Jäger verfolgten und töteten sie, wo immer sie ihrer habhaft wurden. Bald hundert Jahre schon hielt sich dieser König am Leben und auf seinem Thron.
Jetzt fragte sich die zusammengeschrumpfte Schar der Überlebenden, wie um alles in der Welt ihre Brüder und Schwestern in diesem geschundenen Land ihnen helfen konnten. Ein leises Gemurmel erhob sich. Mit erhobener Hand gebot ihnen der Meister zu schweigen.
„Ich weiß, wie schwer es die Blumenhüter in Lopunien haben. Trotzdem können sie uns helfen. Auch sie ziehen an verborgenen Orten Mathari-Samen. Und weil sie selbst die Not kennen, werden sie uns von ihrer Ernte abgeben. So wollen wir nun also beschließen, wen wir für diese Mission auswählen können.“
Noch einmal unterbrach er seine Rede. Sein Blick wanderte über die Gestalten, die um ihn herum saßen. Blasse, erschöpfte Gesichter sah er, auf gerissene Augen. Und überall standen dieselben Worte geschrieben: Nicht mich! Um der Gnade der Großen Mutter willen, lass deinen Blick über mich hinweggehen! Wähle nicht mich!
Schon bei den ersten Worten des Meisters hatte sich in Torians Körper eine seltsame Taubheit aus gebreitet. Seine Muskeln erstarrten. Er fühlte sich wie ein Kaninchen, das mit weit aufgerissenen Augen einer Schlange entgegenblickt. Es gab keine Möglichkeit, sich in Sicherheit zu bringen. Gebannt blieb er sitzen und
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