Matharis Kinder (German Edition)
wenigen Überlebenden herbeigerufen. Das Signal war von den wenigen ebenfalls heil ge bliebenen, kleineren Hörnern weitergegeben worden.
Seit Tagen rief der Meister die Überlebenden zu sammen. Und jeder, der dazu imstande war, folgte diesem Ruf. Wer noch gehen konnte, half jene zu tragen, die es nicht konnten. Die Alten, die Kinder, die Verletzten, die Kranken.
Der Meister blickte in das verwüstete Tal hinunter. Von hier aus hatte er freie Sicht auf das letzte Stück des einzigen, begeh baren Weges. Wie eine Schlangenspur wand sich dieser der von Zelten überquellenden Notsiedlung entgegen.
Vor drei Stunden waren die Letzten angekommen. Es sah nicht so aus, als ob heute noch mehr Brüder oder Schwestern kommen würden. Waren diese hier Versammelten möglicherweise die einzigen Über lebenden? Nur so wenige … großer Himmel, nur so Wenige?
Nachdem sich die Unwetter verzogen hatten, war der Himmel wolkenleer. Von früh bis spät übergoss die ahnungslos strahlende Sonne die Verwüstungen mit goldenem Licht. Immerhin verschaffte sie den Menschen auf den Hügeln trockene Lagerplätze.
Mit einem Seufzer begab sich der Meister wieder auf den Rückweg zu den Zelten. Er konnte eine schwere Entscheidung nicht mehr länger aufschieben. Diejenigen, auf die es ankam, waren ohnehin bereits da.
Torian schlug die Plane des Zelteinganges zurück und bückte sich, um hindurchzukriechen. Das kleine Zelt war kaum groß genug für drei Personen. Doch was bedeutete das schon! Sie waren noch zusammen, hatten alle Stürme, Überschwemmungen, Erdrutsche und Schlammlawinen überstanden. Das war mehr, viel mehr Glück, als den meisten anderen Familien zuteil geworden war.
Noch während Torian die Plane in der Hand hielt, stellte er fest, dass das Zelt leer war. Seine Eltern arbeiteten also immer noch. Die Mutter im Ver letztenlager, der Vater bei einer Truppe, die sich aus Blumenhütern und Männern der ‚Anderen’ zusammensetzte. Gemeinsam suchten sie nach weiteren Überlebenden ... und fanden nur Tote. Am Ende des Tages würden sie die zerschlagenen Leiber in die Notsiedlungen bringen. Dort würden die Überlebenden nach vertrauten Zeichen in den entstellten Gesichtern der Toten suchen. Einige würden weinen. Andere still weggehen. Was war schwerer zu ertragen? Die Trauer um einen Toten? Oder das zermürbende, die Seele zerfressende Warten auf Gewissheit?
Seufzend schob Torian die Bilder der vergangenen Tage beiseite. Er war froh darüber, das kleine Zelt noch ein Weilchen für sich allein zu haben. Seit den frühen Morgenstunden hatte er zusammen mit anderen Männern Bäume weg geräumt und aufgestapelt. Die Sonne würde das zerrissene Holz der besiegten, großen, starken Brüder trocknen. Zu Brennholz. Und zu Holz für neue Häuser.
Als er sich auf die Matte fallen ließ, die den Boden bedeckte, tat ihm jeder einzelne Muskel weh. Er war zu müde, um seine durchweichten Kleider auszu ziehen. Also rollte er sich fröstelnd auf die Seite und zog eine Decke über sich. Da war es wieder, dieses absurde Glücksgefühl. Es hatte ihn erschreckt, als er es das erste Mal in sich aufsteigen fühlte. Als wäre es etwas Ungehöriges, inmitten von so viel Trauer Dankbarkeit zu empfinden. Und doch ließ sich dieses Gefühl nicht verscheuchen. Hartnäckig wie eine Katze in Schmuselaune strich es durch sein Gemüt. Also erlaubte er ihm zu bleiben.
Es war nicht zu leugnen: auf unfassbare Weise hatten ihn die Schicksalshüter begnadet. Sie hatten ihm einen Ausgleich geboten für die langen Jahre der Trennung und des Heimwehs. Hatten und ihn und seine Eltern vor diesem grauen vollen Mahlstrom des Todes bewahrt. Auch heute Abend würde der wortkarge, baumlange Vater mit dem butterweichen Herzen wiederkommen. Ebenso die wunderschöne, sanfte, unverwüstliche Mutter. Ja, dafür durfte er von ganzem Herzen dankbar sein. Sein erschöpfter Körper forderte nun doch sein Recht. Er schlief ein.
Eine sanfte Berührung an der Schulter weckte ihn. Er wusste sofort, dass es seine Mutter war. Dieser Duft war unver wechselbar. Kein anderer Mensch auf der ganzen Erde roch wie seine Mutter. Nun strich sie ihm über die Stirn.
„Du musst aufstehen“, hörte er sie flüstern, „die Versammlung beginnt gleich.“
Ein leises Rascheln verriet ihn, dass sie sich bereits wieder anschickte, das Zelt zu verlassen. Mit einem unterdrückten Stöhnen stemmte er sich auf die Ellbogen.
Torian erreichte den Versammlungsplatz als Letzter. Man wartete nur
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