Matharis Kinder (German Edition)
alles in seiner Tasche und ging.
Gleich darauf verließ auch Torian das Haus. Es war höchste Zeit, Janis zu finden.
Bevor er ging, konnte er es sich jedoch nicht verkneifen, noch schnell hinter Punja zu treten und über ihre Schulter zu gucken.
„Mmh, das riecht ja sehr interessant. Bist du etwa schon dabei, die Mittagssuppe zu kochen?“
Punja rührte nicht in einer Suppe, sondern in einer Salbe, deren herber Duft die Küche erfüllte. Und ihr war nicht nach Scherzen zumute. Grinsend wich Torian einen Schritt zurück, bevor er den heißen Kochlöffel an die Ohren bekam.
„Scher dich hinaus!“ zischte sie.
Torian überlegte nicht, wo er Janis suchen musste. Langsam und mit bedächtigen Schritten begann er bergauf zu gehen. Der Aufruhr in seinem Innern hatte sich geglättet, war zu sanfter Gewissheit geworden. Nein, er musste sie nicht suchen. Sein ganzes Leben hatte er auf sie gewartet, ohne es zu wissen. Nun hatte er sie gefunden. Sie hatte ihn gefunden.
Auf einmal stand er auf einem kleinen Felsplateau, von wo aus sich ihm ein atemberaubender Ausblick bot. Aus dieser Höhe wurde deutlich, über welch riesiges Gebiet sich die Sumpfwälder erstreckten. Kein Kessel war es, sondern ein halbmondförmiger Graben, breit, tief und gezackt wie eine von der Klaue eines wutentbrannten Gottes geschlagene Wunde. Der damals noch junge Leib der Erdenmutter musste bis auf den glühenden Grund seines Fleisches aufgerissen worden sein. Seither hatte sich der Boden nicht mehr verfestigen können. Im reichen Gewand der Großen Mutter befand sich an dieser Stelle nichts als ein als löchriges, lose zusammengeflicktes Stück Tuch. Auch jetzt versteckte sie es unter einer dicken Nebeldecke. Nur dem nie gezählten Heer der Himmelshüter, den Sternen, wagte sie es zu zeigen. Und der sanft leuchtenden Mondin. Vielleicht, weil deren Antlitz ebenso verwüstet war.
Als wäre es ungebührlich, noch länger auf diese verborgene Armseligkeit zu schauen, nahm Torian seinen Blick fort, hieß ihn weiter wandern zu dem vielschattigen Grün jenes Waldes, den er mit Pariko auf den Schultern durchschritten hatte. Aus dem dunklen Saum des Waldrandes strebte das karge Gelände ungestüm der wild aufgetürmten Kette des Kari-Gebirges entgegen.
Weiter wanderte Torians Blick, hinauf in dunstige Höhe, wo er gerade noch die „Sieben Wächter“ erkennen konnte. Auch sie waren auf Janaels Karte verzeichnet: Drei große und vier kleinere Wasserfälle, deren gigantische Wassermassen aus zerrissenen Felswänden zu Tal donnerten. Seit ewigen Zeiten beschützten die „Sieben Wächter“ dieses Tal.
Sieben Wasserfälle. Über Torians Rücken lief ein kühler Schauder. Für einen Augenblick vergaß er sogar, weshalb er hergekommen war. Sieben Wasserfälle ... wie ein Echo erklang in seiner Erinnerung die Stimme seines Lehrers:
… niemand weiß, wo sich die Heimstätte der Weiß vögel befindet. Die Legende erzählt von sieben Wasserfällen, irgendwo hinter diesen Bergen. Dort sollen sie ihre Nester bauen und ihre Jungen aufziehen. Aber diesen Ort hat noch keine Menschenseele gesehen. Nicht einmal ihr Meister ...
Von jenen geheimnisvollen, magischen Wesen hatte der Lehrer gesprochen, die nur hin und wieder in sternklaren Nächten ihre Kreise zogen.
Ihr Meister? Sie haben einen Meister? hatte der Knabe den Lehrer ungläubig gefragt. Er konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, dass diese herrlichen, machtvollen Geschöpfe einen Meister anerkannten. Der Lehrer hatte milde gelächelt und geantwortet: Ja, mein Junge, sie haben einen Meister. Niemand weiß, wer es ist. Es gibt immer nur einen – oder eine – unter allen Blumenhütern auf der ganzen Welt. Man sagt, dass die Weißvögel ihren Meister selbst wählen. Aber auch das weiß niemand mit Bestimmtheit. Der jetzige Meister muss schon sehr alt sein; nicht einmal mein Vater kann sich daran erinnern, dass die Muschelhörner jemals eine neue Wahl verkündet hätten. Und er zählt immerhin schon bald seinen sechzigsten Winter. Dabei verbreitet sich eine solche Botschaft in Sturmeseile über die ganze Welt bis zur hintersten und letzten Siedlung.
Seit ungefähr zwei Wochen wusste Torian, wen die Weißvögel das letzte Mal gewählt hatten...
Guter Himmel! Sie musste damals noch ein Kind gewesen sein!
Und dort hinten, über den „Sieben Wächtern“ war die Heimstätte dieser geheimnisvollen, gefürchteten, verehrten Geschöpfe!
Das Herz des jungen Blumenhüters
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