Matharis Kinder (German Edition)
plötzlich hört er es über sich kreisend brausen – messerscharfe Krallen schlagen sich in sein Fleisch – es tut nicht weh – schon wird er emporgehoben – immer höher – nun blickt er hinunter in die Tiefe – ja, da unten ist die schwarze Spur – riesige Kreise, eine Spirale, die weder Anfang noch Ende hat –
Die Szene wechselt: Jetzt wandert er durch stockschwarze Dunkelheit – kein Vorne oder Hinten – einfach weiter gehen – in seiner Hand leuchtet ein kleiner, blauer Stern – und er weiß, am Ende dieses Weges wartet der Tod …
ELF
Torian erwachte mit einem nagenden Schmerz in der Brust. Als hätte sich über Nacht ein Schwarm kleiner, hungriger Insekten in seinem Körper eingenistet. Doch nein, es waren keine Insekten, waren auch sonst keine Tiere. Es war ein Schneesturm, der den frühlingshaft aufgeblühten Garten seiner Seele verwüstet hatte. Noch ehe die Blumen darin ihre Köpfchen in der Sonne öffnen konnten, waren sie hinweggefegt worden.
An ihrer Stelle stand die Erinnerung an den Traum, diesen düsteren, schattengleichen Wächter. Auf der Schwelle des Erwachens hatte er gewartet. Nun trat er hoheitsvoll näher.
Torian war der Liebe begegnet – und hatte vom Tod geträumt.
Trotzig drückte er sich an dem Wächter vorbei, schleuderte die Bettdecke von sich, schwang die Beine auf den Boden. Nichts, gar nichts wollte er wissen, vom Tod nicht und auch nicht von der Liebe. Er würde jetzt aus diesem Zimmer gehen, in die Küche, wo die Geräusche geschäft igen Treibens ihm sagten, dass die beiden Bewohnerinnen des Hauses bereits aufgestanden waren und das Frühstück zubereiteten. Wie er es schaffte, ihr zu begegnen, wusste er noch nicht. Vielleicht würde er wie ein aufgescheuchtes Rind durch die Küche rennen, sich draußen irgendwo verkriechen und warten, bis ... bis Pariko wieder gesund war und sie die Heimreise antreten konnten.
Torian hielt inne und lauschte auf sein Herz, das plötzlich davon rennen wollte, als wäre es selbst dieses Rind.
Dieses dumme, unbelehrbare Herz! Wie mit einem Feuereisen eingebrannt stand darin das Bild eines Mädchens in Männerkleidern. Eine große, schlanke Gestalt, umflossen vom Licht der untergehenden Sonne, in einer offenen Türe stehend, einen Korb an sich drückend.
Sein Körper hatte noch weit mehr Erinnerungen. Als ob er sie noch immer in den Armen hielte, klangen in ihm ihre Wärme und ihr biegsames Entgegen kommen nach, schmeckte er die süße, verheißungsvolle Einladung ihres Mundes. Er hatte ein wenig von ihr abrücken müssen, um sein aufbrechendes Verlangen zu zügeln.
„Was ist?“ Ihre Stimme hatte kaum das ohrenbetäubende Brausen seines Blutes zu übertönen vermocht. „Was hast du? Willst du mich nicht?“
Himmel! Sie fragte, ob er sie nicht wollte! Merkte sie denn nicht, dass er sie wollte? Mit jeder Faser seines Körpers wollte?
Heftig den Kopf schüttelnd rückte er noch mehr von ihr ab. Es war einfach nicht richtig so, es musste anders, musste mehr sein. Es musste ... gesegnet sein. Von Zeugen. Und von der Großen Mutter .
„Es ... es ist nur ... ich meine, ich habe noch nie ... ich meine, noch gar nie...“
Ein zärtliches Kichern unterbrach Torians Gestammel. „Ich doch auch nicht, Dummerchen. Aber mit dir hätte ich gerne mein erstes Mal ... ich meine...“ Als er die letzten möglichen Millimeter zurück wich, begann auch sie zu stammeln. „Aber wenn du es lieber nicht willst ... ich meine … vielleicht habt ihr dafür da ja bestimmte Regeln. Ist schon in Ordnung, glaub mir, ich bin nicht enttäuscht.“
Doch das Zittern in ihrer Stimme strafte ihre Worte Lügen.
Da hatte er ihr Gesicht wie eine köstliche Frucht in seine beiden Hände genommen und sie noch einmal geküsst. Ein andachtsvoller, ehrfürchtiger Kuss. Als huldigte er einem heiligen Juwel.
Ob sie ihn danach verstanden hatte, wusste er nicht. Mit einer schnellen Bewegung hatte sie sich von ihm losgewunden und war weggelaufen, den Hang hinunter, zurück in das Haus.
Er hingegen war auf der Bank sitzen geblieben und hatte ihr noch nachgesehen, als sie schon lange verschwunden war.
Punja wirtschaftete allein in der Küche. Die beiden Schlaflager waren bereits weggeräumt. Janis’ Mutter blickte dem jungen Peonier so finster entgegen, dass dieser unwillkürlich die Schultern zusammenzog und am liebsten in die Kammer zurückgewichen wäre. Wie eine Tiermutter, die ihr Junges verteidigt, ging es ihm durch den Sinn.
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