Mathias Sandorf
Lyon, der Meerbusen der Provence, der Golf von Genua, die Bucht der Ligurischen Halbinsel, der Golf von Gabes, die Bai des tunesischen Gestades, die beiden Syrten, die so tief zwischen der Cyrenäischen Halbinsel und Tripolis in den afrikanischen Continent einschneiden.
Welchen verborgenen Theil dieses Meeres, von dem einige Küsten noch wenig bekannt sind, hatte Doctor Antekirtt zu seinem Wohnsitze auserkoren? Es gibt im Umfange dieses ungeheuren Bassins hunderte, ja tausende kleinerer Inseln. Es würde vergebene Mühe sein, ihre Kaps und Baien zu zählen. Wie viele Völker verschiedenster Rasse, verschieden in Sitten, politischen Zuständen drängen sich nicht auf diesen Gestaden, denen die Geschichte der Menschheit seit mehr als zwanzig Jahrhunderten ihr Siegel aufgedrückt hat: Franzosen, Italiener, Spanier, Oesterreicher, Türken, Griechen, Araber, Aegypter, Tripolitaner, Tunesen, Algerier, Marokkaner – sogar Engländer in Gibraltar, Malta und Cypern? Drei ungeheure Continente bilden die Ufer dieses Meeres: Europa, Asien, Afrika. Wo also hatte Graf Mathias Sandorf, jetzt Doctor Antekirtt – ein Name, der den Orientalen theuer war – seine ferne Residenz aufgeschlagen, in der das Programm seines neuen Lebens sich abspielte? Peter Bathory sollte es bald erfahren.
Nachdem er einen Augenblick die Augen aufgeschlagen hatte, war er wieder in die vollständige Bewußtlosigkeit zurückgefallen, und ebenso unempfindlich wie in dem Augenblick, als der Doctor ihn für todt in dem Hause in Ragusa zurückgelassen hatte. Damals hatte der Doctor eines jener physiologischen Experimente ausgeführt, bei denen der Wille eine so bedeutende Rolle spielt und deren phänomenale Erscheinungen nicht mehr angezweifelt werden. Mit einer außerordentlichen Eingebungskraft begabt, hatte er vermocht, ohne erst das Magnesiumlicht oder einen brillirenden Metallknopf anwenden zu müssen, nur durch das Durchbohrende seines Blickes einen hypnotischen Zustand hervorzurufen und seinen Willen an Stelle desjenigen Peter’s zu setzen. Dieser, vom Blutverluste geschwächt, gab kein Lebenszeichen mehr von sich, er war entschlummert und nach dem Willen des Doctors wieder erwacht. Jetzt handelte es sich darum, das zum Verlöschen neigende Leben zu erhalten. Ein schwieriges Unternehmen, denn es erforderte ungeheure Sorgfalt und alle Hilfsmittel der medicinischen Kunst. Der Doctor durfte darin nichts versehen.
»Er wird leben!… Ich will es, daß er lebt! wiederholte er. Warum habe ich auch in Cattaro meinen ersten Plan nicht ausgeführt?… Warum hat die Ankunft Sarcany’s in Ragusa mich abgehalten, ihn dieser verwünschten Stadt zu entreißen?… Ich werde ihn aber retten!… In Zukunft soll Peter Bathory der rechte Arm von Mathias Sandorf sein!«
Seit fünfzehn Jahren war es der beständige Gedanke des Doctors Antekirtt, rächen und Vergeltung üben zu können. Was er seinen Genossen, Stephan Bathory und Ladislaus Zathmar, mehr noch als sich selbst schuldig war, hatte er nicht vergessen. Jetzt war die Stunde zum Handeln gekommen und deshalb hatte die »Savarena« ihn nach Ragusa gebracht.
Des Doctors Aussehen war während dieser langen Zeit ein völlig anderes geworden, so daß Niemand ihn hätte wiedererkennen können. Seine Haare, die er bürstenförmig trug, waren weiß geworden und sein Teint hatte eine glanzlose Farbe angenommen. Er war einer jener Fünfziger, welche sich die Kraft der Jugend erhalten, während sie die Kälte und Ruhe des reisen Alters gewonnen haben. Das gewellte Haar, die angehauchte Hautfarbe, der Bart vom venetianischen Blond, die dem jungen Grafen zu eigen gewesen waren, alles das konnte in keiner Weise in der Erinnerung Jener wieder auftauchen, die dem strengen und frostigen Doctor Antekirtt gegenüberstanden. Doch mehr geläutert und abgehärtet, war er eine jener eisenfesten Naturen geblieben, von denen man sagen kann, daß sie die Magnetnadel schon durch ihre bloße Annäherung erzittern machen. Nun wohl, aus dem Sohne Stephan Bathory’s wollte er dasselbe machen, wozu er selbst geworden war.
Doctor Antekirtt war übrigens schon seit geraumer Zeit der Letzte aus der großen Familie der Sandorf’s. Man wird nicht vergessen haben, daß er ein Kind, ein Töchterchen besessen hatte, welches nach seiner Verhaftung der Frau Landeck’s, des Verwalters von Schloß Artenak, anvertraut worden war.
Dieses Mädchen, damals zwei Jahre alt, war die einzige Erbin des Grafen. An sie sollte, sobald sie das achtzehnte
Weitere Kostenlose Bücher