Mathias Sandorf
fester gefaßt, in der Absicht, bis zu der nächsten, tiefer gelegenen Klammer hinunter zu steigen, dort wieder festen Fuß zu fassen und seinen Genossen zu erwarten.
Da plötzlich ließen sich von der Höhe des Wartthurmes herab wirre Rufe vernehmen. Sie schienen aus dem Fenster der Zelle zu dringen. Dann tönten deutlich zu ihnen die Worte herab:
»Rettet Euch!«
Es war die Stimme Ladislaus Zathmar’s.
Fast gleichzeitig zuckte ein greller Feuerstrahl aus der Mauer hervor, gefolgt von einem echolosen, scharfen Knall. Das war nicht die gezackte Linie eines Blitzes, was da die Luft durchhallte. Ein Flintenschuß war aufs Gerathewohl, wie man annehmen mußte, aus einer Schießscharte des Thurmes abgegeben worden. Mochte er nun ein Signal für die Wächter bedeuten oder war den Flüchtlingen eine Kugel nachgeschickt worden, gleichviel – die Flucht war entdeckt.
Der Posten auf dem Flur hatte in der That ein verdächtiges Geräusch gehört, er hatte Hilfe herbeigerufen und war mit fünf oder sechs Aufsehern in die Zelle gedrungen. Das Fehlen von zwei Gefangenen war natürlich sofort bemerkt worden. Der Zustand des Fensters zeigte deutlich, wo entlang sie ihren Weg genommen hatten. Ladislaus Zathmar hatte sich, ehe man ihn zurück zu halten vermochte, noch schnell aus der Fensteröffnung herausgebeugt und den Freunden die warnenden Worte zugerufen.
»Der Unglückliche! rief Stephan Bathory. Sollen wir ihn verlassen, Mathias, sollen wir ihn verlassen?«
Ein zweiter Schuß wurde abgefeuert; diesmal mischte sich sein Knall mit dem Grollen des Donners.
»Gott erbarme sich seiner! antwortete Graf Sandorf. Wir müssen fort, und wäre es auch nur, um ihn zu rächen. Komm’, Stephan, komm’!«
Es war die höchste Zeit. Andere Fenster in den unteren Stockwerken des Thurmes wurden geöffnet. Abermals entluden sich einige Gewehre. Man hörte auch lautes Stimmengewirr. Vielleicht schnitten gar die Aufseher dadurch, daß sie auf der unteren Mauerbank des Thurmes herbeikamen, den Flüchtigen den Weg ab. Vielleicht wurden diese auch von den Kugeln getroffen, die ihnen von anderen Theilen des Thurmes aus nachgesendet wurden.–
»Komm’!« schrie Mathias Sandorf noch einmal.
Und er ließ sich schnell an dem Kabel weiter herab; Stephan Bathory folgte ihm sofort nach.
Beide bemerkten jetzt, daß dasselbe unbefestigt in der Leere unterhalb des Mauerkranzes einherschwankte. Stützpunkte, Wandklammern, die ein Ausruher und Athemholen ermöglichten, waren nicht mehr vorhanden. Beide waren nur dem Schlenkern dieser losen Kette preisgegeben, welche ihnen in die Hände schnitt Sie kletterten weiter mit fest angeschlossenen Knien, ohne sich halten zu können während die Kugeln ihnen um die Ohren pfiffen.
Pisino und die Schlucht der Foïba.
Auf diese Weise rutschten sie in einer Minute wohl an achtzig Fuß herunter; es schien ihnen, als wäre der Abgrund, der sie umfing, bodenlos. Schon tönte das Gebrüll des aufgerührten Gewässers zu ihnen heraus. Es wurde ihnen nun klar, daß das Kabel zu einem reißenden Wasser führen mußte. Aber was thun? Sie hätten vielleicht versucht, am Leitungsdrahte wieder hinauf zu klimmen, allein es fehlte ihnen die Kraft, die Basis des Thurmes wieder zu erreichen. Da man damit auch nur den sicheren Tod eingetauscht hätte, so war es schon angenehmer, ihn hier in der Tiefe zu finden.
Gerade jetzt ließ sich ein furchtbarer Donnerschlag inmitten einer anhaltenden elektrischen Feuergarbe vernehmen. Obwohl die Spitze des Blitzableiters auf dem Dachfirst des Wartthurmes nicht direct von dem Blitze getroffen worden war, so war die Spannung des Fluidums diesmal doch eine so starke, daß der Leitungsdraht seiner ganzen Länge nach weiß erglühte, wie ein Platinafaden durch die Entladung einer elektrischen Batterie oder Säule.
Stephan Bathory schrie vor Schmerz auf und ließ getroffen die Hände los.
Mathias Sandorf sah ihn, zum Greifen nahe, mit ausgebreiteten Armen an sich vorbei hinabfliegen.
Er mußte ebenfalls das eiserne Kabel, das ihm die Hände verbrannte, fahren lassen und stürzte von einer Höhe von mehr als vierzig Fuß in den Strudel der Foïba, in den gähnenden Rachen der unbekannten Höhle des Buco.
Fußnoten
1 So wurde 1753 Richeman durch einen faustgroßen Funken getödtet, obgleich er einige Schritte von dem Blitzableiter entfernt stand, dessen Leitung er unterbrochen hatte.
Siebentes Capitel.
Der Strudel der Foïba.
Es war in der elften Abendstunde. Die
Weitere Kostenlose Bücher