Mathilda Savitch - Roman
Aber Klugheit hat da überhaupt keine Bedeutung. Bei Engeln geht es, wenn ich das recht verstehe, sogar um etwas Größeres als Klugheit. Angeblich hat es mehr mit Glänzen zu tun. Einem Licht jenseits dessen, was unsere Vernunft begreift. Wie Diamanten überall, in jedem bisschen Luft, und Farben, für die wir nicht einmal Namen haben.
Anna hört auf zu lachen und wischt sich die Tränen von den Wangen.
«Ich muss nach Hause», sagt sie.
Das hätte nicht kommen dürfen.
Denn wir stehen an diesem Ort, wo zwei Menschen ewig stehen, wo sie einander ewig in die Augen sehen könnten. Wie oft geschieht das schon? Und wird es je wieder geschehen?
Fünf
Als ich heute Morgen in die Schule kam, sagte man mir als Erstes, ich solle in Miss Oliveras Büro kommen. Sie ist die Direktorin unserer Erziehungsanstalt, aber man würde das nie vermuten, so, wie sie sich anzieht. Perlen und Armreifen und Chiffontücher im Haar. Sie sollte wirklich draußen auf der Straße Räucherstäbchen verkaufen.
«Schau mich an», sagt Miss Olivera.
Ich schaue nur auf die Lippen.
«Wie geht es dir denn so in letzter Zeit?», sagen die Lippen.
Ojemine, denke ich, jetzt wird wieder mein ganzes Leben durchgehechelt, dabei will sie in Wirklichkeit nur wissen, warum ich Carol Benton gestern ins Gesicht geschlagen habe. Was eigentlich gar nicht meine Absicht war. Ich war selbst überrascht, als sich herausstellte, dass es eine echte Ohrfeige war und nicht bloß der Gedanke.
«Was macht dich so wütend?», fragt O. Was bildet sie sich ein? Sie sei der Baum?
«Ich bin nicht wütend», sage ich. Ich frage mich, ob sie ein Tonband laufen lässt.
«Du hast jemanden geschlagen, Mathilda. Da gehört Wut dazu», sagen die Lippen.
In Wahrheit ist Carol Benton eine von denen, die Gewalt geradezu herausfordern. Allein schon ihr großes Gesicht. Und oft genug habe ich sie mit ihren Freundinnen tuscheln sehen, und dann glotzen sie mich an. Wo ist das große Geheimnis? Als wüssten es nicht schon alle.
«Mathilda», sagt O. «
Mathilda
. Hörst du mir zu? Ich möchte dir eine Chance geben, verstehst du», sagt sie und greift nach meiner Hand wie eine Perverse. Ich ziehe sie zurück und tue so, als müsste ich mich jucken.
«Ist zu Hause alles in Ordnung?», sagt sie. Immer dieselben Fragen.
«Wie geht es deinen Eltern?»
«Geht es deiner Mutter etwas besser?»
«Ganz gut», sage ich.
O durchbohrt mich mit ihrem Röntgenblick, aber ich lasse sie nicht eindringen. Ich weiß nicht, ob ich ihr trauen kann. Ich würde ihr gern sagen, dass es nun fast ein Jahr her ist und ich meine Mutter immer noch nicht habe weinen sehen, wie Mütter weinen, wenn ein Kind gestorben ist. Seit Helene tot ist, benimmt sich Ma, als wäre sie bei der Armee. Ist das normal?, würde ich gern fragen.
«Dürfte ich bitte Ihre Toilette benutzen?», sage ich.
O nickt, ich stehe auf und gehe durch die Tür.
O hat ein eigenes Bad. Es ist nicht so sauber, wie es sein sollte. Im Waschbecken liegt ein Haar. Ich fische es mit einem Stück Klopapier heraus und stecke es in meine Tasche, für alle Fälle. Auf einer Ablage sehe ich einen Lufterfrischer, daneben eine Dose Pfefferminz und einen Schokoriegel. Wer hebt Esssachen im Badezimmer auf? Ekelhaft, wenn Sie mich fragen.
Interessant ist auch die Badewanne voller Topfpflanzen. Lauter Grün, keine Blüten. Wie im Dschungel. Ich muss mich einigermaßen zusammenreißen, keine Affen- oder Tropenvögelgeräusche zu machen.
Ich ziehe die Klospülung, damit kein Verdacht aufkommt. Ich öffne das Medizinschränkchen. Darin sind eine Haarbürste, Lippenstift, ein Fläschchen mit Pillen, eine Zahnbürste und Zahnpasta. Ichnehme die Pillen, Exhilla heißen sie, und stecke sie ein. Dem Waschzettel zufolge kommt man mit Exhilla viel sorgloser durch den Tag. Allerdings fällt mir ein, wie Miss O voriges Jahr, direkt nach der Explosion der Oper in New York, wo so viele Bonzen und sogar ein Senator umgekommen sind, eine Rede für die ganze Schule hielt, und am Ende weinte sie in ihre Chiffontücher.
Als ich aus der Toilette komme, lächelt sie. Kein falsches Lächeln, soweit ich erkennen kann.
«Tut mir leid», sage ich.
«Ich werde es nicht wieder tun», sage ich und bitte sie, es meinen Eltern nicht zu sagen.
«Achte nicht auf die Leute», sagt Miss Olivera. «Du darfst dir das nicht so unter die Haut gehen lassen.»
Ein trauriges Lächeln. Wie das meines Vaters.
«Du bist ein kluges Mädchen», sagt sie. Sie steht auf, und ich fürchte,
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