Mathilda Savitch - Roman
Bücherei. Vorne stand ein Mann auf einer Leiter und reparierte eine Lampe. Kein Priester, jedenfalls nicht im Dienstgewand. Jesus am Kreuz war die Hauptattraktion. Es war eine Kirche für Katholiken. In dieser Stadt wimmelt es von Kirchen. Fast auf jedem Hügel steht eine, nur die katholischen muss man mit der Lupe suchen. Hier in der Gegend gibt es vor allem Protestanten, und dann noch ein paar Fanatiker, die in die Kirche mit der Leuchtschrift RETTE DEINE SEELE gehen.
Ich gehe durch den Mittelgang nach vorn, um mir Jesus genauer anzusehen. Seine Augen sind geschlossen, aber er ist nicht tot. Ich glaube nicht, dass das die Botschaft ist, die sie rüberbringen wollen. Er leidet. Das ist Anna zufolge sein Hauptberuf. Als ich näher dran bin, glaube ich, dass seine Augen vielleicht doch nicht ganz geschlossen sind. Bitte schau mich nicht an, denke ich. Ich habe das einmal in einem Film erlebt, wie eine Statue plötzlich die Augen aufschlug, Anna und ich haben beide geschrien. Komisch ist nur, während ich dachte, schau mich nicht an, wünschte etwas in mir, er täte es doch. Es waren zwei Gedanken in einem.
Ich gebe Jesus das Oben-Unten-Zeichen und trete näher, weil er sich ja hauptsächlich zeigen will. Sein Köper ist nicht schlecht. Dünn, aber mit Muskeln. Man könnte sich vorstellen, dass er regelmäßig Joggen oder Schwimmen war. Er ist ziemlich dürftig angezogen, nichts als eine Art ausgeleierte Badehose. Kein toller Anblick, eher wie Windeln. Das Blut ist da und die Dornenkrone, ganz schön schockierend, wenn man es mit eigenen Augen sieht. Ich setze meine Mütze ab und stehe vor ihm. Der Mann auf der Leiter nimmt keine Notiz von mir, als wäre es mein gutes Recht, hier zu sein.
Die Kerzenbeleuchtung machte das Ganze zu einer richtig guten Schau. Durch die springenden Schatten auf dem Körper sah es aus, als zuckte Jesus am Kreuz. Außerdem hatte man das Gefühl, in allen Ecken lungerten unsichtbare Gestalten. Ich fragte mich, ob die Toten wohl in Kirchen herumhängen.
Ich knie mich auf ein kleines Polster, von dem aus man zum Altar aufblicken kann.
«Jesus», sage ich. Zuerst wollte ich nur seine Aufmerksamkeit. Aber dann sagte ich ihm noch ein paar andere Sachen über mein Leben und überhaupt alles. Ich versuchte, nicht zu lügen, aber vielleicht habe ich ein bisschen übertrieben. Ich dachte, dafür könne er mich nicht bestrafen, weil ich nicht ihm gehörte. Um Ihnen die Wahrheit zu sagen, ich fühlte mich ihm gegenüber ziemlich frei.
«Nun, mein Sohn, kann ich etwas für dich tun?», sagt jemand.
Ich drehe mich um, und hinter mir steht eine Frau. Sie muss reingeschlichen sein, während ich drauflosgeplappert habe.
«Oh, Entschuldigung», sagt sie.
«Meine Tochter», korrigiert sie sich. Ich glaube, es ist eine Nonne. Sie hat alles an außer der Pelikanhaube.
«Ich konnte es von hinten nicht erkennen», sagt sie.
Ich ziehe mir die Mütze wieder über den Kopf. «Habe ich zu laut gesprochen?», frage ich sie. Ich sage ihr, ich hätte gebetet.
«Oh, wie schön», sagt sie. Aber sie rät mir, das nächste Mal doch lieber zu flüstern.
Ich erkläre ihr, ich habe nur sicher sein wollen, dass er mich auch hört.
«Oh, er hört dich», sagt sie. «Er hört auch deine Gedanken.» Vielleicht ist sie eine arme Irre, denke ich. Mir fällt auf, dass ihre Kleidung nicht im besten Zustand ist. Sie ist am Kragen etwas abgewetzt.
«Ich bin nicht von dieser Kirche», sage ich. «Ich wollte sie nur besichtigen.»
Die eine Hälfte von ihr denkt, wie nett, die andere denkt etwas anderes.
«Ist dir kalt?», fragt sie.
«Nicht wirklich», sage ich.
«Hast du keinen Mantel?» Sie lächelt.
«Doch», sage ich, «aber nicht dabei.»
«Oh», sagt sie nickend.
«Ich habe haufenweise Mäntel», sage ich.
Sie lächelt mich immer noch an. «Wir haben nämlich welche hinten», sagt sie. «Wenn du doch meinst, dass du frierst. Du musst nur Bescheid sagen.»
Glaubt sie, ich sei obdachlos? Zum Brüllen komisch. Ich frage sie, ob sie irgendwelche Gebete kennt. Darüber muss sie lachen.
«Oh ja», sagt sie, «eine ganze Menge». Sie geht zu einer Bank und nimmt ein rotes Buch aus einer Halterung, die fest in das Holz eingelassen ist. Sie schlägt eine bestimmte Seite auf und zeigt auf eine Stelle. «Hier, das ist ein gutes», sagt sie.
Ich rücke ein bisschen näher an sie heran. Sie gibt mir das Buch, aber ich denke nicht daran, ihr etwas vorzutragen.
«Sagen Sie manchmal auch Sachen, die nicht im Buch
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