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Mathilda Savitch - Roman

Mathilda Savitch - Roman

Titel: Mathilda Savitch - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: C.H.Beck
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ich in Wirklichkeit nie dort gewesen bin. Das Glas, hinter dem der Mann steht, ist etwas streifig. Nicht richtig verschmiert, aber trotzdem, man möchte es am liebsten abwischen. Nichts zieht einen mehr runter als ein schmutziges Fenster.
    «Willst du eine Fahrkarte?», fragt er.
    «Nein danke», sage ich. Ich hatte nur ungefähr fünf Dollar in der Tasche.
    Ich frage ihn, ob es jeden Tag einen Zug nach Desmond gibt.
    «Jeden Tag, kleines Fräulein», sagt er. Alte Leute nennen einen manchmal so. Mool nennt mich hin und wieder so, wenn er in Zwinkerlaune ist. Der gute alte Mool, König der Spiralpommes. Ich schreibe es mir in den Kopf: Mool besuchen. Kaum zu glauben, wie ich ihn plötzlich vermisse.
    Da sonst niemand am Schalter Schlange steht, bleibe ich einfach da. Ich habe keinen sehnlicheren Wunsch, als dem Fahrkartenmann zu sagen, wer ich bin. Die Wahrheit über meine Fahrt nach Desmond. Ihm zu sagen, dass meine Schwester dorthin wollte.
    O ja, der Rotschopf.
Ich höre es ihn fast schon sagen, genau diese Worte. Er sieht ganz so aus wie einer, der ein ausgezeichnetes Gedächtnis hat.
    Habe ich Ihnen erzählt, dass die Fahrkarte nach Desmond, die man in Helenes Tasche fand, nur für den Hinweg war? Anscheinend hatte sie vor, nicht zurückzukommen, egal was passierte. Vielleicht war sie sich nicht hundertprozentig sicher, dass sie es tun würde. Springen, meine ich. Ich kann schon dieses Wort nicht leiden. Vielleicht war ihr anderer Plan, den Zug nach Desmond zu nehmen und ein ganz neues Leben anzufangen. Aber das sind so Gedanken, die zu nichts führen. Denn die Wahrheit ist nun einmal so: Für Tote ist die Zukunft ziemlich hoffnungslos.
    Außer man überlegt sich auch die Theorie, die Menschen würden nach ihrem Tod von dem letzten Gedanken geleitet, den sie vor dem Sterben im Kopf hatten. Wenn Helene also daran gedacht hat, in Desmond ein neues Leben zu führen, könnte es sein, dass sie jetzt genau das tut. Womöglich weiß sie selber gar nicht, dass sie tot ist. Ich habe einmal in einer Fernsehsendung gesehen, wie ein Typ starb und einfach weiter täglich zur Arbeit ging und dann nach Hause zu seiner Frau. Die Frau war weniger begeistert, dass der Geist ihres Mannes jeden Abend am Tisch saß und auf das Essen wartete, aber er schien quietschvergnügt. Als man ein Medium fand, das schließlich zu ihm durchdrang und ihm sagte, er sei tot, war er ziemlich überrascht. Ein böses Erwachen, das steht fest. Was ich sagen will, ist nur, wenn Helene nicht wissen sollte, dass sie tot ist, hoffe ich, dass niemand es ihr jemals sagt.
    Nachdem ich mich von dem Fahrkartenmann verabschiedet habe, hole ich mir zwei Tüten Chips und lasse mich im Wartesaal auf eine Bank plumpsen. Obwohl ich nicht mit dem Zug fahren werde, ist mir danach zumute, einfach hier zu sitzen. Von Zeit zuZeit rauscht draußen ein Schnellzug vorbei, und der Fahrtwind drückt gegen die Glastüren, die zu den Bahnsteigen führen. Die Türen öffnen sich ein wenig, wie von unsichtbarer Hand bewegt. Im Raum ändert sich der Druck, und es entsteht ein saugendes Geräusch, wie ein Asthmaanfall. Es klingt wirklich sehr unangenehm, und ich bin nicht die Einzige, die das so empfindet. Jedes Mal, wenn es passiert, blicken die anderen im Wartesaal auf und zupfen ihre Mäntel zurecht oder ziehen ihre Koffer näher an die Füße.
    Durch die Glastür sehe ich wartende Leute auf den Bahnsteigen. Ich sehe kein rothaariges Mädchen in einem blauen Mantel. Nicht, dass ich es erwartet hätte. Ich sage nur, ich sehe keins. Der Zug nach Desmond hält immer an Gleis 2. Aber um dorthin zu kommen, muss man in den Untergrund, durch einen Tunnel. Ma und Pa sind früher mit dem Zug zur Arbeit gefahren, aber jetzt nehmen sie das Auto. Wenn im Fernsehen ein Zug auftaucht, geht Ma aus dem Zimmer.
    Ich gebe mir einen Ruck und gehe in den Tunnel. Das Atmen ist wieder mal komisch, aber ich halte mich nicht damit auf, meine Übungen zu machen. Ich gehe einfach die Treppe hinunter, dann eben mit diesem blöden He-he-hecheln wie ein verschwitzter Hund. Unten riecht es nach Pisse und Bleiche, und man hört
pling pling
etwas von der Decke tropfen. Über meinem Kopf donnert ein Zug vorbei, kurz darauf folgen die leiseren Geräusche eines anderen, der einfährt und hält. Ich habe mir vorgenommen, einmal durch die Unterführung durchzugehen und auf der anderen Seite wieder raus. Aber dann kommt ganz am Ende des Tunnels ein Mann die Treppe herunter. Wahrscheinlich ist er gerade aus dem Zug

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