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Mathilda Savitch - Roman

Mathilda Savitch - Roman

Titel: Mathilda Savitch - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: C.H.Beck
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sagte ich.
Warum tust du es nicht einfach?
    Ich überlege, ob ich in den Tunnel zurückrennen soll, aber es ist zu spät. Ich schließe die Augen. Vielleicht bin ich schon tot, denke ich. Vielleicht bin ich die Tote. Vielleicht habe ich alles durcheinandergebracht und spreche aus meinem eigenen Sarg mit Ihnen. Ich gehe zwei Schritte vorwärts, direkt auf den Zug zu, aber ich spüre nichts. Niemand legt seine Hände auf mich. Niemand zieht mich zurück, und niemand schubst mich. Ich bin auf mich selbst gestellt. Genau hier, am Rand. Ich spüre den Wind des Zuges im Gesicht. Er ist warm wie ein Mensch.
    Als ich die Augen aufmache, stehe ich direkt vor der Tür. Sie öffnet sich zischend wie ein Raumschiff. Aber niemand kommt heraus.
Es tut mir leid
, sage ich.
    «Worauf wartest du?», bellt jemand hinter mir. «Steig ein!»

Teil Vier

Siebenunddreißig
    Könnten Sie mir einen Stift leihen?», sage ich zu dem Mann.
    Eigentlich war es eher ein Junge, aber er hatte ein Baby bei sich, darum kam er mir älter vor. Das Baby war in ungefähr zwanzig Lagen Flausch gewickelt und kaute am Ärmel des Jungen.
    Er sieht mich an, als spräche ich kein Englisch. «Was?», sagt er.
    «Ich brauche was zum Schreiben», sage ich. «Wenn Sie einen Stift hätten?»
    Ich erkläre, sonst hätte ich immer eine ganze Ladung Stifte dabei, aber heute müsse ich vergessen haben, welche einzustecken.
    «Hab ich nich», sagt er und dreht sich wieder zum Fenster, um die Welt draußen vorbeirauschen zu sehen. Der Zug legte sich ganz schön ins Zeug. Ein echter Eilauftrag, mindestens dreihundert Kilometer die Stunde.
    Ich weiß nicht mal, warum ich den Jungen überhaupt gefragt habe. Er hatte einen Bürstenschnitt und eine große Nase. Eher eine Art Brutalo, ganz und gar nicht der Typ für einen Stift. Und man merkte gleich, wie arm er war, an der Kleidung und an seiner Sprechweise und wie er eben aussah.
    «Vielleicht hat sie Hunger», sage ich.
    «Was?», sagt der Junge. Das war wirklich sein Lieblingswort.
    «Ich habe Chips», biete ich ihm an.
    «Was soll ich mit Chips?», sagt der Junge wie ein kleiner Junge.
    «Für das Baby», sage ich, «wenn sie Hunger hat.»
    «Sie hat kein Hunger», sagt er. Der gab ja eine schöne Mutter ab. Ein richtiger Ernährer. Ich glaube, er muss wohl gedacht haben, das Baby kaue nur zum Üben auf seinem Ärmel herum.
    «Ich habe auch etwas Schokolade», sage ich und ziehe einen angebissenen Marsriegel aus der Tasche.
    «Du kannst einem Baby doch keine Schokolade geben», sagt er.
    «Das wusste ich nicht», sage ich. «Ist das wie bei Hunden?»
    «Was wie bei Hunden?», fragt er.
    «Man kann sie umbringen», sage ich. «Mit Schokolade.»
    «Sie vertragen das nicht», erkläre ich ihm. «Und auch wenn sie nicht sterben, werden sie schrecklich krank.»
    «Aha», sagt er.
    Und weil wir nun doch richtig ins Gespräch kommen, frage ich ihn, ob es sein Baby sei, und als er nickt, sage ich ihm, wie hübsch sie ist. Irgendwie war sie das auch, obwohl nicht so atemberaubend wie manche anderen Babys. Sie hatte ein schönes unbekümmertes Gesicht. Man konnte sich schwer vorstellen, dass sie das Baby von diesem Jungen sein sollte. Sie war mindestens zehnmal so ungewöhnlich wie er. Einen Augenblick hatte ich fast das Gefühl, eigentlich müsste es mein Baby sein. Und dann hatte der Junge auch noch diese nervöse Angewohnheit, sein Bein dauernd auf und ab zu wippen. Ich glaube, er merkte das nicht mal, aber das Problem war, er schüttelte das Baby richtig.
    «Sie weint nicht», sage ich zu ihm.
    Er guckt mich an und ich zeige auf das Baby. «Sie brauchen sie nicht so zu schütteln», sage ich.
    «Verdammte Scheiße, du kannst mich mal», sagt er, dann steht er auf, packt seine Sachen und sucht sich einen anderen Platz.
    Mein Gesicht wurde glühend heiß. Ich wollte mich entschuldigen, obwohl ich mir gar nicht sicher war, was ich falsch gemacht hatte. Ich hätte den blöden Jungen fast heiraten und ihm helfen mögen, das blöde Baby zu versorgen, so schlecht fühlte ich mich.
    Außerdem war
verdammte Scheiße
ein Schock für mich. Ichhabe es wohl selbst schon ein paar Mal gesagt, aber ich bin nicht mit so einer Sprache aufgewachsen. Ma und Pa reden nie so. Aber ich weiß, da draußen gibt es eine ganze Welt voller wütender armer Leute, die nicht zimperlich damit sind. Viele von ihnen leben draußen am Stadtrand und hier oben in den Bergen. Ganze Gemeinschaften davon. Ganze Sippen, die sich mit Lebensmittelmarken und winzigen

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