Mathilda Savitch - Roman
Gemüsegärten durchschlagen. Manchmal bleiben sie aus Verzweiflung die ganze Nacht auf und zerschmeißen Bierflaschen.
Der Schaffner gibt mir schließlich einen Stift, und ich richte mich mit meinem Heft ein. Ich beschließe, den Englischaufsatz zu schreiben, von dem Anna sagte, wir müssten ihn machen. Was uns zu der Geschichte mit dem Mann in der Badewanne und dem Jungen auf dem Fahrrad einfällt. Ich wühle meinen Rucksack durch, aber ich habe den Text nicht dabei. Plötzlich wollte ich ihn unbedingt noch einmal lesen. «Der Erste und der Letzte» ist der Titel. Die Geschichte geht immer hin und her zwischen dem alten Mann und dem Jungen, und man fragt sich die ganze Zeit, was die beiden miteinander verbindet. Der Junge hat eine Nachricht, einen Brief, und man denkt, vielleicht bringt er ihn dem alten Mann, aber ich vermute, sie sind in Wirklichkeit ein und dieselbe Person. Der alte Mann schläft in einer Badewanne ein, oder er ist gerade am Ertrinken. Die ganzen Umstände sind etwas verwirrend, aber mit Absicht. Vielleicht ist der Alte auch betrunken.
Als ich die Geschichte las, hatte ich irgendwie das Gefühl, die Erinnerungen des Ertrinkenden seien meine eigenen, obwohl ich mich gar nicht an ein Haus erinnere, das auf einem Hügel liegt und von roten Blumen oder aschgrauen Steinen umgeben ist. Trotzdem, als ich die Geschichte las, kam es mir vor, als hätte ich sie zur Hälfte selbst geschrieben und der andere Typ, der Autor, den Rest.Und als die beiden Hälften zusammenkamen, machte es
klick
, der Gedächtnisschwund war weg und alle Erinnerungen strömten zurück. Die besten Geschichten sind so. Wie Raumschiffe. Sie bringen dich irgendwohin, setzen dich in weiter Ferne ab, und du denkst, oh, ganz schön unheimlich hier. Aber dann denkst du, warte, vielleicht kenne ich das doch. Vielleicht bin ich sogar hier geboren.
Meine Hand flog über die Seite, um mit den rasenden Gedanken mitzuhalten. Und dazu raste auch der Zug, aber wohin ging die Fahrt? Zu Louis, ja. Aber wer ist er?, dachte ich. Ich hatte wirklich keine Ahnung, wer diese Louis-Figur sein könnte, und ob sie wirklich wichtig war. Außerdem, welche Rolle spielte Helene bei alledem? Mehr als alles in der Welt wünschte ich mir, sie könnte mich in diesem Zug sehen. Aber wollte sie eigentlich, dass ich nach Desmond fuhr, oder dachte sie, halt dich da raus, kümmre dich um deine eigenen Angelegenheiten? Vielleicht war diese ganze Reise eine einzige Zeitverschwendung, und die Hauptsache war, wieder nach Hause zu kommen. Vielleicht waren Ma und Pa und Anna und Kevin die Hauptfiguren. Aber ich konnte den Zug nicht einfach umdrehen. Ich las kein Buch, das ich zuklappen konnte, wenn ich aufhören wollte. Ich musste zu Ende bringen, was ich begonnen hatte. So bin ich eben. Die meisten Leute fangen etwas an, und dann lassen sie es fallen, flop. Ma ist das beste Beispiel. Ich frage mich, ob sie all ihre Geschichten wirklich zerstört hat, ich meine die, die sie früher geschrieben hat, als sie noch jung war. Es ist wie mit der Bibliothek, die sie in Ägypten abgefackelt haben. Als Mrs Veasey uns von dem Brand in Kleopatras Bibliothek erzählte, wurden ihre Brillengläser ganz dunstig. Anscheinend sind da viele wichtige Dinge verloren gegangen. Eine ganze Reihe griechischer Tragödien, und dann noch ein Sammelsurium anderes Zeug. Ich glaube, wenn Mastirbt, wird genau so alles zu Ende sein. Was auch immer für Geschichten in ihr sind, alles wird einfach verschwinden. Aber ich glaube, vielleicht geht es am Ende jedem so. Warum sollte ich mich eigentlich um Helenes Geschichte kümmern? Hätte sie sich die Zeit genommen, meine zu erzählen, wenn ich diejenige wäre, die weggegangen ist?
Als ich zum Atemholen aufblickte, war alles anders. Hinter dem Fenster wurde es baumiger und baumiger. Dann fuhr der Zug über eine Brücke, unter der Wasser war. Keine Ahnung, ob das Glück oder Unglück bedeutete. Aber es gab kein Zurück mehr, das stand fest. Jetzt war es so gut wie in Stein gemeißelt.
Sie hat die Brücke überquert
, kritzelte ich in mein Heft.
Sie ist mitten im Wald
. Ein Teil von mir hatte das Gefühl, ich sei vielleicht schon nicht mehr unter den Lebenden, ich sei in eine andere Welt übergegangen. Dorthin, wo die Wächter leben, wo all die Menschen sind, die sie weggetragen haben.
Wir waren ziemlich hoch in den Bergen. Das Fenster bewegte sich etwas zu schnell, und die Landschaft draußen war wie ein Rausch fliegender Kleckse. Ich war ein klein bisschen
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