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Mathilda Savitch - Roman

Mathilda Savitch - Roman

Titel: Mathilda Savitch - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: C.H.Beck
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nervös, darum beschloss ich, aufzustehen und mir die Beine zu vertreten. Ich gehe von Waggon zu Waggon, obwohl auf dem Schild steht, das sei verboten. Ich durchquere ungefähr fünf Wagen, und dann sehe ich sie. Eine Frau mit Tuch über dem Kopf. Kein Geist, eine Ausländerin. Heruntergebeugt spricht sie mit jemandem. Als ich näher dran bin, sehe ich die Kinder, einen Jungen und ein Mädchen. Ich versuche, mich rückwärts zu verziehen, aber da hebt sie den Kopf. Es ist die Mutter von Eyad Tayssir. Kein Zweifel, dass sie mich erkennt. Sie lächelt.
    «Bist du nicht mit meinem Sohn in einer Klasse?» Merkwürdig, was sie für einen Akzent hat. Irgendwie spricht sie alles überdeutlichaus. Von Nahem entdecke ich lauter Glitzerfäden, die sich durch das schwarze Tuch über ihrem Kopf ziehen. Sie erinnern mich an Mas Kleid mit den silbernen Blumen.
    «Möchtest du etwas mit uns essen?», fragt Mrs Tayssir. Sie breitet kleine Päckchen in Alufolie auf dem ausklappbaren Tischchen aus. Ich frage mich, ob sie vorhat, den Zug in die Luft zu sprengen.
    «Nein», sage ich, und dann erkläre ich noch, dass ich gerade etwas Schokolade gegessen habe.
    Die Kinder langen schon zu. Beide haben schwarze Augen und wunderschöne Augenbrauen, wie Vogelschwingen. Sie essen mit den Händen, etwas Zähes, Streifiges.
    «Was ist das?», frage ich.
    «Probier doch mal», sagt sie.
    Ich will nicht unhöflich sein und probiere, aber kaum habe ich geschluckt, bekomme ich ein komisches Gefühl. Gift, denke ich. Es war irgendein scharf gewürztes Fleisch.
    «Ich dachte, Sie sind alle Vegetarier», sage ich. Ich wäre fast erstickt.
    «Wer?», fragt sie.
    «Ich weiß nicht», sage ich. Im Stillen denke ich, dass ich sie wohl mit den Hare Krishnas verwechselt habe. Es gibt so viele Leute, die Tücher tragen, und alle haben andere Regeln.
    Zum Glück fragt Mrs Tayssir mich nicht, warum ich heute nicht in der Schule bin. Sie lächelt mich einfach an. Wir beide lächeln die essenden Kinder an, nur dass ich nicht wirklich lächle. Ich tue nur so. Ich weiß nicht, wie viel sie über mich weiß. Ich weiß nicht mal, ob sie meinen Namen weiß.
    «Ich bin Mathilda», sage ich aus irgendeinem Grund.
    «Ich bin Aneesh», sagt sie. Sie hat ein wunderschönes Lächeln, wie Eyad.
    «Das bedeutet
Freundin
», sagt sie. Ziemlich verdächtig, finde ich, es mir extra zu sagen.
    «Und das sind Azhar und Perizad», sagt sie. Ich weiß nicht, wie sie die ganze Zeit lächeln kann, nach allem, was die Leute ihr angetan haben.
    «Was bedeuten ihre Namen?», frage ich sie.
    Sie freut sich, dass ich es wissen will. Mit einem übermenschlichen Lächeln legt sie dem Jungen ihre Hand auf den Kopf. «Azhar», sagt sie, «ist
ein Gesicht voller Licht
. Und Perizad, ja, du», sagt sie, weil das Mädchen sie verschämt anstrahlt. «Perizad ist
von den Feen geboren

    «Was?» sage ich, und sie wiederholt es. Ich fühle mich, als hätte die Polizei meinen Kopf gestürmt. Mir wird fast wieder übel.
    «Was bedeutet Mathilda?», fragt sie.
    «Weiß ich nicht», sage ich. «Ich muss gehen.»
    «Was ist los?», sagt sie. «Setz dich zu uns. Rück rüber, Peri, mach ein bisschen Platz.»
    Ich hätte mich gar nicht mit ihr unterhalten dürfen. Ich will nicht festgenommen werden, und auch nicht, dass mein Name auf eine Liste kommt. Am Ende könnte die Regierung mich noch foltern lassen. Bisher war das verboten, Folter, aber ich glaube, jetzt nicht mehr. Ich behalte das Mädchen im Auge. Sie spielt mit einer Plastikgiraffe. Sie lässt die Giraffe ein Lied singen, und obwohl sie sich vor Schüchternheit nicht richtig traut, merke ich, sie singt für mich. Kleine Kinder wollen einem immer zeigen, was sie für Lieder können, auch wenn sie sich dabei schämen. Mrs Tayssir singt ein bisschen mit, um das Mädchen zu ermutigen. Sie hat eine schöne Stimme, und ich lasse es einfach über mich ergehen. Es ist nur ein dummes Lied über Äpfelpflücken, ein Abzähllied mit Händeklatschen, was das Mädchen offensichtlich am liebsten macht. Ich gebemir einen Ruck und nehme noch etwas von dem Essen, während sie singen. Eigentlich schmeckt es gar nicht so schlecht, man muss sich nur daran gewöhnen.
    Ich weiß, dass eine Terroristenmutter nur heimlich weinen darf, wenn ihr Kind gestorben ist. Auf der Beerdigung muss sie lächeln und ihre Hand heben und Beifall brüllen wie bei einem Fußballspiel. Das habe ich jedenfalls gehört. Die Sache ist nur, so kann ich mir Mrs Tayssir nicht vorstellen. Sie

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