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Mathilda Savitch - Roman

Mathilda Savitch - Roman

Titel: Mathilda Savitch - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: C.H.Beck
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Mutter, als wären sie direkt aus meinem Bauch gehüpft. Ich fühlte mich wie aufgerissen, und die ganze Welt quoll aus mir heraus. Ich wäre ihnen fast gefolgt, weil ich dachte, sie könnten mich vielleicht zurückbringen an den Ort, wo zwei Mädchen einfach lachen wie die Blöden und die Welt ihnen den Buckel runterrutscht. Ich frage mich, ob die Feen-Mädchen ihr ganzes Leben lang Freundinnengeblieben sind. Ich wette, ja. Ich wette, sie liegen sogar im selben Grab.
    «Nach Desmond?», fragt der Mann lächelnd. Es ist derselbe Fahrkartenmann in derselben Weste. Ich hätte ihn küssen mögen, dass er sich erinnerte.
    «Hin und zurück», sage ich und gebe ihm das Geld.
    «Zwanzig Minuten», sagt er. «Gleis zwei.»
    Jetzt wäre der Moment, ihn nach Helene zu fragen.
    «Brauchst du sonst noch etwas?», sagt er.
    «Nein», sage ich.
    «Dann kann’s ja losgehen.»
    Er zwinkert mir zu. Er weiß Bescheid.
    Im Wartesaal waren lauter Männer in schwarzen Mänteln über Zeitungen gebeugt. Sie saßen wirklich in grausiger Haltung da. Es war irgendwie deprimierend, und so beschloss ich, einfach zu rennen, was ich nur konnte. Ich rannte die Treppe hinunter und an einem Stück durch den ganzen Tunnel. Als ich auf der anderen Seite wieder hochkam, war ich vollkommen außer Atem. Ich dachte schon, ich würde ohnmächtig, darum konzentrierte ich mich nur noch auf mein
ein durch die Nase, aus durch den Mund
.
    Ich konnte es nicht glauben, dass ich endlich da war. Genau da, wo sie gestanden hatte. Es war, als ginge ich in einen Film. Das Komische ist, als ich gerade wieder richtig Luft bekam, verschwand die Sonne hinter einer Wolke und der Farbfilm wurde schwarz-weiß. Auf dem Bahnsteig warteten ein paar Leute, aber mir war nicht danach zumute, sie genauer anzusehen. Ich sah eine Telefonzelle und beschloss, Mas Handy anzurufen. Eigentlich hatte ich auch ein Handy, aber Pa hat es mir weggenommen, als ich ihm sagte, ich erwarte einen Anruf von Helene. In den ersten Monaten schlief ich mit meinem kleinen Telefon in der Hand, weil ich fürchtete, siekönne anrufen, nachdem ich eingeschlafen war. Die Toten erledigen den größten Teil ihrer Geschäfte nachts. Sie haben keine Schlafenszeiten wie wir.
    Ich frage mich, ob Ma vielleicht weggegangen ist, weil sie nicht damit fertig wurde, dass ich auch noch verschwunden war. Ich will ihr eine wirkliche Nachricht hinterlassen, eine wirkliche Entschuldigung. Und, um Ihnen die Wahrheit zu sagen, etwas in mir hoffte, sie würde mich davon abhalten, nach Desmond zu fahren. Ich war nicht unbedingt wild darauf, in einen Zug zu steigen und dann hinauf in die Berge von blueforest.com zu fahren. Ich atme noch einmal tief durch, damit ich mir nicht am Ende etwas zurechtmurmle wie eine Behinderte. Als Mas Telefon anfängt zu klingeln, hänge ich fast wieder auf, aber dann warte ich die Mailbox ab.
    «Hallo», sagt sie. Es erwischt mich kalt, weil es nicht die Mailbox ist, es ist wirklich sie selbst. Eine Sekunde lang weiß ich nicht, was ich sagen soll. Mir klappern wieder die Zähne.
    «Bist du zu Hause?», frage ich sie.
    «Mathilda?», sagt sie. So, wie sie es sagt, möchte man fast meinen, sie hätte ihr ganzes Leben auf meinen Anruf gewartet.
    «Wo bist du?», frage ich.
    «Hör mir zu», sagt sie. «Schrei nicht so.»
    «Ist Pa bei dir?»
    «Hörst du auf zu schreien, Süße?», sagt sie. «Würdest du mir bitte zuhören?»
    Bevor ich antworten kann, passiert das Schlimmste. Mit schrillem Pfeifen kündigt sich ein Schnellzug an und donnert durch den Bahnhof. Ich weiß, Ma kann ihn hören. Sie stößt einen schrecklichen Laut aus, als käme sie gerade vom Luftanhalten unter Wasser hoch. Ich weiß nicht, was ich tun soll, und hänge einfach auf. Ich schließe die Augen, bis der Zug vorbei ist.
    «Geht es dir nicht gut?»
    Es ist eine Frau in grünem Hosenanzug, mit einer Aktentasche in der Hand.
    «Doch, alles in Ordnung», sage ich, obwohl ich kaum Luft bekomme. Ich gehe auf die Gleise zu, weil ich einen anderen Zug um die Kurve biegen sehe. Meiner. Genau pünktlich. Jetzt klappern mir nicht nur die Zähne.
    Am Morgen des Tages, an dem es passierte, hatte Helene in ihrem Zimmer geweint, und ich war reingeplatzt, um ihr zu sagen, hör auf. Ich hatte es satt, es machte mich krank, wie sie ewig die ganze Aufmerksamkeit auf sich zog. Sie wollte meine Hand nehmen, aber ich ließ sie nicht. Als sie sagte, sie würde sich umbringen, habe ich ihr praktisch ins Gesicht gelacht. Warum tust du’s nicht?

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