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Mathilda Savitch - Roman

Mathilda Savitch - Roman

Titel: Mathilda Savitch - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: C.H.Beck
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hergekommen?»
    Ich war mir meiner Geschichte jetzt ziemlich sicher, darum blieb ich einfach bei meiner alten Antwort.
    «Sie wollte, dass du es weißt.»
    Louis sah mich merkwürdig an, als glaubte er mir nicht richtig. «Weswegen hast du vorher so geweint?»
    Ich wusste nicht, was ich ihm sagen sollte.
    «Ihr ist doch nichts passiert, oder?», sagte er.
    Kaum hatte er das gesagt, fingen meine Hände an zu zittern. Ich guckte nach unten und sah, dass alles falsch geknöpft war.
    «Was meinst du?», fragte ich.
    «Bei der Operation», sagte er.
    «Nein», sagte ich. «Ist alles gut gegangen. Sie brauchte danach nur etwas Ruhe.» Die blöden Knöpfe wollten einfach nicht mitmachen, und ich verhedderte mich weiter.
    Louis starrte mich immer noch an, darum fügte ich hinzu, sie komme sich ziemlich mies vor wegen allem, wirklich. Ich holte einmal tief Luft und beschloss, dann eben doch Helenes Sekretärin zu sein. Ich wusste genau, was ich sagen musste, um es ihr recht zu machen.
    «Es tut ihr wirklich leid.»
    Louis’ Augen waren grüner als zuvor. Normalerweise würde man sich Weinen nicht als Schönheitsgeheimnis vorstellen, aber ich glaube, manchmal ist es das. Es machte die Farbe seiner Augen irgendwie vollkommen. Und ein bisschen gruselig. Wenn es nicht Jesus’ Augen waren, waren es die des Teufels. Louis sah mich an, als wäre das das Ende der Welt. Louis mit einem Arm und grünen Augen und den spielenden Muskeln eines Jungen. Wer war er wirklich? Er war weder meine Mutter noch mein Vater. Er war nicht Anna oder Kevin oder irgendjemand, den ich kannte. Er war ein Fremder. Was bedeutet, er war leer. Wie ein Baby. Ich wollte ihm Sachen einfüllen.
    Ich wollte nicht, dass sie noch einmal starb.
    «Sie hatte wirklich eine schöne Zeit mit dir», sage ich. «Warum kannst du dich nicht einfach für sie freuen?»
    Wie blöd, so etwas zu sagen. Es funktioniert nicht. Louis lacht sein Lachen, das kein wirkliches Lachen ist. Ich gehe zwei Schritte näher heran, jetzt kann ich die Fotos etwas besser sehen. Sie sind alle in Farbe, und auf jedem ist ein anderes Mädchen. Lächelnd oder schmollend oder einfach in die Luft starrend. Alle möglichen Posen. Ich frage Louis, wer sie seien, und er schiebt den Karton über den Tisch. Mein Herz schlägt bis zur Kehle. Es sind keine verschiedenen Mädchen. Alle sind Helene. Ihre vielen Stimmungen. Die Fotos lagen wild durcheinander, es war wie ein Zauberaquarium voller Gesichter. Ich dachte an Rose und Violet und Daisy, unter Staub im Keller begraben.
    Ich wusste, ein Mann sollte so etwas nicht haben, einen Karton voller Fotos von einem kleinen Mädchen, sechzehn und noch in der Schule. Ein Teil von mir hatte Angst, aber ein anderer Teil war seltsam ruhig. Eines der Gesichter lächelte mich aus dem Karton an. Ich sah, sie war glücklich da unten.
    Und dann legte sich eine Art Wolke über Louis. Geheime Gedanken gingen in ihm um. Seine Lippen murmelten ein paar Sekunden lang, bevor ein richtiges Wort herauskam.
    «Ich war verwirrt», sagt er.
    Ich frage ihn nicht, weswegen.
    «Ich wäre ja gekommen», sagt er. «Wenn sie mir nur eine winzige Chance gegeben hätte. Sie hat nicht mal … ich meine, wir hätten doch, sie hätte doch …»
    Ich wusste, er sprach über das Baby, und ich sah, wie aufgewühlt er war. Aber es war etwas, worüber ich nicht reden wollte, also nickte ich nur. Die Vorstellung von einem Baby in einer Toten ist schlimmer, als an ihre Seele zu denken. Ma hätte Helene umgebracht. Ma hättesie ermordet. Ma wollte nie Babys. Jedenfalls nicht am Anfang. Sie bekam Helene, als sie noch viel zu jung war, und das sagte sie einem auch, direkt ins Gesicht, wenn man sie fragte. Wartet, war immer Mas weiser Rat. Wartet, bis ihr älter seid. Ruiniert nicht euer Leben, war die geheime Botschaft. Es macht mir immer etwas komische Gefühle, zu denken, Ma habe vielleicht etwas anderes gewollt. Helene hätte Ma nie die Wahrheit sagen können. Ma erwartete, dass Helene all die tollen Sachen machen würde, die sie selbst nicht gemacht hatte. Die Gesangsstunden, das Klavier, die Zeichenkurse im Museum, es war Ma, die sich dafür begeisterte. Sie setzte alle ihre Hoffnungen und Träume in Helene. Natürlich, in wen sonst?
    Also habe ich auch Ma geschubst, als ich Helene schubste. Ich habe sie beide getötet. Ich fiel fast um von dem Gedanken.
    Warum tust du’s nicht? Warum tust du es nicht einfach?
In meinem Kopf hörte ich mich wieder diese Worte sagen. Aber sagen Sie mir, sagen Sie

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