Mathilda Savitch - Roman
Das ist das Erste, was mir einfällt. «Sie kennt ihn schon lange», sage ich. «Einer aus der Schule.»
Louis’ Gesicht zieht sich plötzlich zu einer Faust zusammen. Es sieht aus, als wollte er mit seinem Schädel etwas zerschmettern. Als er wieder einen Schritt auf das Bett zu macht, fange ich fast an zu schreien. Aber er setzt sich nur neben mich. Er bedeckt sein Gesicht mit der einzigen Hand, die er hat. Er gibt nur kleine Laute von sich, wie ein Vogel, der sein Nest baut. Wenn er wieder weint, dann nur für sich selbst. Ich wollte ihm am liebsten noch eine Pille holen, aber ich wagte nicht, mich zu rühren.
Es klang wirklich, als bräche er kleine Zweige in seinem Mund. Es war ziemlich unangenehm. Meine Kehle schnürte sich zu, und ich fragte mich, ob es gemein war, das zu tun. Ihm zu sagen, Helene liebe jemand anderen. Aber wenn ich es recht bedenke, ist es überhaupt nicht gemein. Wenigstens wird sie für Louis nicht tot sein. Auch wenn er sie nie wiedersieht, braucht er nicht an sie in einerKiste unter der Erde zu denken, ohne dass er auch nur wüsste, welche Schuhe sie da unten trägt. Er braucht die Wahrheit niemals zu erfahren. Am Jahrestag der Türme gibt es immer eine Sendung im Fernsehen, aber für Helene wird es nichts dergleichen geben. Als es passiert ist, haben Ma und Pa es sogar geschafft, ihren Namen aus den Zeitungen herauszuhalten. Es gibt also keine Geschichte von Helenes Tod, außer für uns. Die andere Geschichte, die von der lebenden Helene, kann Louis jetzt weiterspinnen. Es ist seine Aufgabe, sie zusammenzuhalten. Und das wird er sicher besser machen als ich, weil ihm nicht jedes Mal übel wird, wenn er einen Zug sieht. Der Gedanke an Züge mag traurig für ihn sein, weil sie so immer zu ihm gekommen ist, aber wenigstens ist er nicht unerträglich.
«Sie hat mich gebeten, herzukommen und es dir zu sagen», erkläre ich. «Sie konnte dir einfach nicht vor die Augen treten.»
Er guckt mich an, und ich schwöre Ihnen, ich lüge nicht. Er ist schön. Ich sehe nach unten, auf seine nackten Füße. Sie wären wirklich das ideale Paar gewesen, auch wenn es Gesetze dagegen gab. Ich sehe das Bild vor mir, wie die grünen Augen das rote Haar anschauen, und beide barfuß in dem kleinen Haus. Helene lief immer ohne Schuhe rum, auch draußen, egal wie oft Ma sie vor Splittern und Pilzflechten und Glasscherben warnte. Und ich wette, die beiden haben viel Zeit in diesem Bett verbracht, halb nackt, und das perfekte traurige Lied zu erfinden versucht, mit dem sie ins Radio kommen würden. Man merkte, dass er ihr in vielem sehr ähnlich war, einer dieser wunderbaren schrägen Typen, die entweder berühmt werden oder unter dem Garagendach anderer Leute enden. Ich hasse es, solche Dinge zu sagen, aber wahrscheinlich wäre Helene nie Sängerin geworden, nicht wirklich. Wer würde jemanden auf die Bühne holen, der bei seiner Nummer die Augen nicht offen halten kann? Aber das sind vermutlich genau die Sachen,deretwegen die Jungen sich in sie verliebten. Sicher denkt Louis jedes Mal an sie, wenn er unter die Decken kriecht. Er ist so nahe, dass ich seine Körperwärme spüre. Ich denke daran, seine Hand noch einmal anzufassen, nur ist der Arm an meiner Seite eben der Arm, der nicht da ist. Ich werde ihn danach fragen. Ihn fragen, wie es passiert ist. Wir sitzen lange da. Eine Uhr platzt wie eine Bombe in die Stille.
Ich frage mich, ob er erleichtert ist. Dass es endlich aufhört, das Warten. Ich wette, es war nicht einfach, Helene zu lieben. Es macht sicher eine Menge Arbeit, wenn man sich in ein Kind verliebt, denn in Wahrheit war sie das noch. Sechzehn ist wirklich nicht sehr groß, wenn man sich das genauer überlegt. Hier, neben Louis, fühlt es sich winziger an denn je. Aber das Komische an der Sache ist, früher oder später hätte sie ihn eingeholt. Das tun Kinder immer.
Ich spüre, er schaut mich immer noch an, aber ich konzentriere mich weiter auf seine Füße. Ich frage mich, was die Wächter wohl von diesem Bild halten. Ist es das, was sie wollten, Mathilda und Louis nebeneinander auf einem Bett sitzend, und so nahe, dass sie sich praktisch berühren? Oder wollen sie mich in einer anderen Geschichte, mit jemandem in meinem eigenen Alter?
«Du siehst ihr etwas ähnlich», sagt er.
«Wem?», frage ich, obwohl ich weiß, von wem er spricht.
«Ich sehe ihr kein Fitzelchen ähnlich», sage ich. Ich setze meine Mütze ab und zeige ihm mein schreckliches Haar. «Sehe ich ihr immer noch
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