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Mathilda Savitch - Roman

Mathilda Savitch - Roman

Titel: Mathilda Savitch - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: C.H.Beck
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ähnlich?», sage ich. Ich weiß nicht, warum es so wütend herauskommt.
    «Ich würde erkennen, dass du ihre Schwester bist», sagt er. Das ist wohl das Traurigste, was je ein Mensch zu mir gesagt hat. Nachdem er das gesagt hat, bin ich nicht mal mehr in dem kleinen Haus. Ich fliege durch den Weltraum, wo es regnet wie verrückt. AusLichtjahren Entfernung streicht Louis mir übers Gesicht, aber die Tränen strömen weiter. Als Nächstes weiß ich nur, dass wir einander festhalten. Ich halte ihn fest, wie ich nie jemanden gehalten habe, nicht einmal meine Mutter. Ich halte ihn, als hätte ich Krallen. Nach einer Weile versickern die Tränen im Untergrund, in einer Höhle. Louis klopft mir auf die Schulter, und wir beide sitzen einfach da im Matsch. Aus Versehen streife ich den leeren Ärmel.
    «Bist du so geboren?», frage ich.
    Er lacht. Es ist kein richtiges Lachen, es ist etwas anderes.
    «Nein», sagt er.
    «Was ist passiert?»
    Er schüttelt nur den Kopf. «Egal.»
    Das ist es auch. Er hat recht. Es ist schnurzpiepegal. Ich lege meinen Kopf auf sein Kissen.
    «Du solltest gehen», sagt Louis. Aber ich sehe ihm an, er meint es nicht.

Einundvierzig
    Kaum jemand im Zug. Ich habe ungefähr den ganzen Platz für mich alleine. Ein paar Männer in schwarzen Mänteln, aber die stören mich nicht. Ich kritzle die Seiten voll, Sachen, die passiert sind, Sachen, die gesagt wurden. Aber jetzt sind es nur Worte, sie können niemanden verletzen. Wenigstens nicht
tödlich
. Ich habe sagen gehört, Worte könnten töten, aber das stimmt nicht. Man kann nichts töten, was schon tot ist. Wie die Vergangenheit. Man kann nicht ungeschehen machen, was passiert ist. Man muss einfach damit leben, egal ob man es selbst getan hat, oder ob es etwas ist, was jemand anderes einem angetan hat.
    Der Stift ist mächtiger als das Schwert, heißt der andere berühmte Spruch. Haben Sie den schon mal gehört? Was für ein Schrott. Worte haben ihren Platz, aber sie schlagen kein Schwert. Das Schwert kriegt einen immer, so oder so. Manchmal fühlt es sich so an, als würden all die blöden Stifte nur vor dem Schwert davonlaufen und
rennen
, was das Zeug hält, um einen Schritt Vorsprung zu bewahren.
    Als ich in dem kleinen Haus aufwachte, lag ich immer noch in Louis’ Bett. Er saß auf der anderen Seite des Zimmers am Tisch. Etwas an ihm war anders, und dann fiel mir der hochgesteckte leere Ärmel auf. Er hatte den schlackernden Stoff ordentlich gefaltet an der Schulter festgemacht, damit er nicht herunterhing. Ich dachte, das sei sehr freundlich, aber das Problem war, mit dem abgeknickten Ärmel konnte man sehen, dass nicht der ganze Arm fehlte. Es war noch ein ganzes Stück übrig, oben an der Schulter. Ich sah an meinem eigenen Körper herab, aber es war alles dran. Ich hattemeine Kleider noch an. Nicht einmal meine Schuhe hatte man mir ausgezogen.
    Ich fragte Louis, wie lange ich geschlafen hätte, und er sagte nicht lange. Er hatte einen offenen Schuhkarton vor sich. Ich setzte mich auf, aber ich war mir nicht ganz sicher, wie ich hier herauskäme. Ich konnte nicht einfach durch die Tür gehen und ihn verlassen. Ich hatte ihm schon meine Schwester weggenommen und sie an den Jungen von nebenan verheiratet. Ich hatte das Gefühl, ich müsse ihm etwas zurückgeben. Außerdem hatte er sich so hübsch aufgesteckt und sich sogar das Haar gekämmt. Nicht, dass ich dort hätte leben wollen oder was Ähnliches, aber ich wusste, bis ich am Bahnhof wäre, würde es schon dunkel, und es gibt nichts Schlimmeres, als im Halbdunkeln auf einen Zug zu warten, besonders wenn es draußen kalt ist. Und dann kommt der Zug mit seinen glühenden Lichtern, aber auch wenn man eine Fahrkarte zu einem bestimmten Ort hat, kann man nie ganz sicher sein, dass sie einen auch dorthin bringen. Ich habe in meinen Geschichtsbüchern alles darüber gelesen. Die seltsamen Geschäfte von Zügen in der Nacht.
    «Ich glaube, ich gehe dann besser», sage ich mit einem kleinen Lächeln. Ich glaube, es war etwas wie Flirten, aber es war nicht falsch. Zum ersten Mal fühlte ich mich ganz natürlich. Louis sagte nichts, und so hatte ich keine Wahl. Ich ging zur Tür. Mein Mantel lag noch auf dem Boden, und ich hob ihn auf. Louis’ Hand bewegte sich in dem Schuhkarton langsam hin und her, als wäre Sand darin. Oder als tätschelte er etwas, ein Tier vielleicht. Aber dann erkannte ich, es waren Fotos.
    Ich knöpfte gerade meinen Mantel zu, als Louis mich anschnauzte. «Warum bist du

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