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Mathilda Savitch - Roman

Mathilda Savitch - Roman

Titel: Mathilda Savitch - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: C.H.Beck
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mir doch, wie ich es hätte wissen sollen, dass sie nicht log, als sie sagte, sie bringt sich um? Wie konnte so etwas wahr sein? Aber die Sache ist die, es gibt schwache Menschen und es gibt starke Menschen auf der Welt, und wenn es eine oberste Regel gibt, ist es die, dass man Sachen beschützt, die schwächer sind als man selbst, ob Tiere oder Menschen. Man muss auf sie aufpassen, wie auch immer. Egal, ob man eifersüchtig auf sie ist, oder ob man mehr von ihnen geliebt werden möchte. Das ist mein großer Fehler, und wenn Sie mir jetzt ein riesiges F aufs Hemd malen wollen, tun Sie es nur, hier ist mein Stift.
    Als Louis aufblickt mit seinen schrecklichen Augen, fürchte ich, dass er mich erkennt. Dass er die Wahrheit weiß. Ich bin der Schubser. Das werde ich sein, am Ende der Welt. Der Mann, der sich aus dem Staub machte. Das Herz eines Menschen ist ein abscheuliches Ding. Man kann es kaum ansehen.
    «Tut mir leid», sage ich. «Ich hätte nicht kommen sollen.» Das Atmen will wieder nicht richtig.
    Louis kratzt sich an seinem kleinen Stummelarm und zieht dann schnell die Hand weg, weil es ihm peinlich ist. Alles ist Scham. Aber aus irgendeinem Grund können wir nicht aufhören, einander anzusehen.
    «Wie ist es passiert?», frage ich ihn. Ich meine nicht seinen Arm, aber er glaubt, das sei es, wovon ich rede. Er fasst sich wieder an den Stummel. Diesmal lässt er ihn nicht sofort wieder los.
    «Bei der Armee», sagt er.
    Was allen Sinn kaputt macht. Helene hasste den Krieg. Helene war immer auf der Seite von Petronella Peacock. Sie hätte sich nie in einen Soldaten verliebt. Plötzlich ist er wieder gefährlich. Ich nenne ihn einen Lügner. Ich sage ihm, Helene sei gegen den Krieg, sie hasse ihn. Für sie sei die Armee die übelste Sache auf der Welt. Diese Art, wie unschuldige Jungen eingezogen und in Verbrecher verwandelt würden. Mörder, sagt sie. Tiere!
    «Reg dich ab», höre ich ihn sagen. «Was schreist du so?»
    «Ich habe sie bei einem Marsch kennengelernt», sagt er. «In Corinth.»
    Das ist die Stadt, wo Ma und Pa unterrichten, wo ihr College ist.
    «In Corinth gibt es nur Märsche
gegen
den Krieg», kreische ich, und er schreit zurück: «
Was zum Teufel glaubst du eigentlich, wie kriegsbegeistert ich zurückgekommen bin?
» Sein kleiner Arm schießt vor, direkt auf mich gerichtet.
    O Gott, denke ich, warum ist denn alles so verdreht? Das kleine Haus schien zu fliegen. Soviel ich wusste, könnte es ins Auge eines Wirbelsturms geraten sein. Es könnte das aus Kansas herausgerissene Haus in Schwarz-Weiß sein. Und ich wollte nur noch landen.Wieder am Boden sein. «Es tut mir leid», sage ich. Ich will nicht, dass er mich anbrüllt. Wenn Helene sich in ihn verliebt hat, kann ich das auch. Ich mache die Anna-Geste, mir das Haar hinters Ohr zu streichen, auch wenn ich dabei nicht viel zu tun habe. Ich sehe Louis direkt in die Augen und nehme seine Hand. «Okay», flüstere ich.
    Zuerst wusste ich gar nicht, was ich sagte. Ich konnte nicht wirklich geradeaus denken. Es fühlte sich an, als hätte jemand einen Bienenstock in meinem Kopf gesprengt.
    Ich drücke seine Hand fester und denke, vielleicht sollte ich mich von ihm nehmen lassen. Direkt hier, auf dem Fußboden. Damit er das Baby in mich tut. Vielleicht ist das der Grund, warum ich hier bin. Vielleicht ist das der große Plan der Wächter. «Okay», flüstere ich noch einmal, und obwohl ich zittere, nähere ich mich ihm.
    Er guckt mich an, als hinge ihm eine Qualle am Bein. Er entzieht sich. Er ist kein Fünkchen interessiert. Ich fühle mein Gesicht rot anlaufen. Ich senke die Augen und sehe den Karton mit den Fotos. Ich frage mich, ob ganz unten wohl Nacktfotos von Helene begraben sind.
    «Ich könnte dich ins Gefängnis bringen», sage ich.
    Aber um ehrlich zu sein, hoffte ich, es
seien
Nacktfotos von Helene unten in dem Schuhkarton. Wer weiß, vielleicht kam sie her, wenn sie traurig war, und er machte sie glücklich. Wie ich gehört habe, gibt es beim Sex einen Moment, in dem man schreit. Ganz am Ende. Man explodiert, und angeblich soll es ein Gefühl sein, das einen direkt in den Himmel hebt. Aber man braucht seinen Körper nicht zu verlassen. Man kommt mitsamt dem Körper in den Himmel, aber nur für ein paar Sekunden. Ich wüsste gern, ob man beim Sex auch einen Blick auf die Toten ergattern kann. Ich werde jedenfalls meine Augen offen halten, wenn es soweit ist. Versprochen.
    Wer weiß, vielleicht wird eines Tages irgendjemand Nacktfotos

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