Mathilda Savitch - Roman
stehe ich einfach da. Ich lasse Louis sie rufen und warte, dass es passiert. Dass meine Schwester aus den Büschen direkt auf uns zukommt, mit einem Apfel oder einem Dollar in der Hand. Obwohl ich weiß, das wird sie nie. So blöd bin ich auch nicht.
Ein Baby. In ihr. Einmal, vor nicht allzu langer Zeit, machte Helene sich fertig, um mit einem Jungen auszugehen, und ich sagte ihr, sie sehe aus wie eine Hure. Aber das stimmte nicht. Sie war wunderschön. Ich hasste sie nur, warum auch immer. Manchmal liebt man jemanden so sehr, dass man am Ende gegen ihn kämpft. Ich weiß, das macht keinen Sinn, aber es ist wahr.
Ich kann Louis nicht mehr ansehen und gehe wieder in das kleine Haus. Das ist das Bett, in dem es passiert ist. Ich hebe die Laken vom Boden auf. Sie sind kalt. Ich trage sie zum Bett. Als ich mich umdrehe, steht Louis in der Tür. Seine Augen sind feucht.
«Sie hat es weggemacht», sage ich. «Sie musste es tun.»
Was soll ich ihm sonst erzählen? Wenn ich das Baby leben ließe, müsste Louis der Vater sein. Er würde Helene suchen und ihr helfen wollen, das kleine Ding großzuziehen. Was aus hundert Gründen unmöglich ist.
«Das Baby ist weg», sage ich.
Louis schließt die Augen, und aus seinem Mund kommt Luft. Plötzlich bricht sein ganzes Gesicht auf. Er stöhnt, aber dann wird das Stöhnen etwas anderes. Es sind vertraute Laute, und ich frage mich, wo ich sie schon gehört habe. Dann erinnere ich mich.
Heulen und Klagen: Die Stadt begräbt ihre Kinder
. Seltsam, ich wollte es immer hören, ich hätte nur nie gedacht, dass es von einem Fremden kommen würde.
Ich sehe ihn schmelzen, und ich frage mich, warum steht Ma nicht hier und weint wie er?
Ich gehe zu ihm hin und berühre seine Hand. Ein Wunder, dass ich nicht selbst anfange zu weinen. Aber es war, als täte Louis es für mich. Ich fühle mich irgendwie unsicher auf den Beinen, und als ich mich aufs Bett setze, frage ich mich, für wen ist es schlimmer? Für Ma, für mich oder für Louis? Wer hat mehr verloren und wergewinnt? Wenn es um den Tod geht, ist der größte Verlierer jedenfalls der Held mit der Dornenkrone und den Bluttränen, die ihm das Gesicht herunterlaufen.
«Du musst sie vergessen», sage ich.
Louis bewegt sich etwas auf das Bett zu.
«Warum hat sie mich so übergangen?», sagt er, und die Spucke fliegt ihm aus dem Mund.
«Das macht sie eben», sage ich ihm. «Sie übergeht Leute. Einen Augenblick liebt sie dich, und im nächsten bist du Luft für sie.» Und so war sie wirklich. Sie gab dir Gutenachtküsschen, und morgens tat sie so, als kenne sie dich nicht. Einmal saß ich mit ihr beim Frühstück, und sie sagte: «Ich lebe hier nicht, weißt du, keiner von uns lebt hier.» Bis dahin hatten wir einfach unser Müsli gegessen und alles war vollkommen in Ordnung, wir beide fix und fertig für die Schule angezogen und duftend wie ein Stück Seife. Als sie vom Tisch aufstand, sagte sie nicht mal Tschüss.
«Du warst nicht ihr einziger Freund», sage ich. Obwohl er demnach, wie dann alles endete, wahrscheinlich derjenige ist, den sie am heißesten geliebt und am meisten gehasst hat.
Louis guckt mich an, und ich frage mich, ob er die Wahrheit sehen kann. Hat er Röntgenaugen? Sieht er die Knochen und die Federn in meinem Magen?
Aber er sieht sie nicht. Er ist vollkommen blind, genau wie die Mutter. Nur dass Louis blind vor Liebe ist. Wenn man verliebt ist, wundert man sich nicht so sehr, plötzlich alles zu verlieren. Irgendwie hat man es immer erwartet. Und im Übrigen muss Louis mir sowieso glauben, egal was ich ihm erzähle. Er kann sich nicht wehren, weil das, was er mit Helene gemacht hat, einfach illegal war. Er kann nicht zu uns nach Hause kommen und Helene zurückverlangen, auch nicht, wenn sie noch da wäre. Obwohl, jemand wie erkönnte zu allem fähig sein. Verrückt genug war er mit Sicherheit. Ich erkenne verrückte Menschen, weil ich mit ihnen gelebt habe. Viele Leute kommen auf seltsame Ideen. Einschließlich erwachsener Männer, die sich in Sechzehnjährige verlieben. Solche Männer leben ganz sicher in einer Phantasiewelt. Ein bisschen hinterm Mond scheinbar.
Ich muss dafür sorgen, dass er sie vergisst. Das ist die einzige Möglichkeit, ihn aufzuhalten.
«Sie will heiraten», sage ich.
«Was?», sagt Louis. «Das ist …»
Er schüttelt den Kopf. Zuerst denke ich, er glaubt mir nicht, aber dann sehe ich seine Augen verschwimmen.
«Wie?», sagt er. «Wen?»
«Den Jungen von nebenan», sage ich ihm.
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