Matrjoschka-Jagd
Heller«, sagte Nore Brand und setzte sich hin.
»Hoffentlich ist der Kaffee nicht kalt geworden«, murmelte er, bevor er die Tür leise hinter sich schloss.
Viktor Heller war ein sehr gut erzogener junger Mann. Seine Sprache gepflegt.
Doch die heutige Jugend glich Nino Zoppa, damit hatte sie sich abzufinden. Dieser Viktor Heller war eine die Regel bestätigende Ausnahme. Trotzdem, er musste ein schrecklicher Langweiler sein. Eine häufige Nebenwirkung von bester Erziehung. Das wussten viele Eltern nicht.
Ein kurzes Klopfen riss sie aus ihren Gedanken. Das rundliche Gesicht eines viel zu gut genährten Mittvierzigers schaute sie entschuldigend an.
Pralinen und Konfekt mussten warten.
Der Mann schob sich herein, seine ganze Haltung bat um Verzeihung. »Ich wollte Sie wirklich nicht beim Kaffee stören. Der Direktor hat mich hierher geschickt. Ich hätte gewartet, wenn ich gewusst hätte, aber …«
Nore Brand winkte ab. Sie erhob sich, um ihn zu begrüßen. Seine Hand war feucht und heiß. Vielleicht war das in seinem Fall nichts Besonderes. »Herr Benvenuto?«
»Ja, sozusagen. Es ist mein Künstlername.«
»Setzen Sie sich.«
Dieser Mann schien sich in seinem privatesten Bereich ertappt zu fühlen. Helle Haarsträhnen versteckten die kahlen Stellen auf seinem runden Kopf. Sein Schnurrbart war sorgfältig geschnitten, sodass die vollen Lippen etwas bedeckt waren.
»Wie heißen Sie?«
»Mein wirklicher Name ist Schmied, Richard Schmied. Aber seit ich hier bin, nenne ich mich Ricardo Benvenuto. Ich liebe italienische Namen, weil sie gut klingen. Der Direktor fand das eine gute Idee.«
Kulissen, Kulissen. Nore Brand zeigte keine Regung. Aber sie gab ihm recht. Antonella Ferruci, Mara Lamborghini oder etwas in der Art würde klanglich auch mehr hergeben als Nore Brand.
»Der Direktor hat Sie zu mir geschickt, weil Sie mit Frau Ehrsam Kontakt hatten.«
Auf seinem Gesicht zeigte sich Bestürzung. Nore Brand bezog dies automatisch auf das Schicksal von Frau Ehrsam. Sie irrte sich.
»Das verstehe ich nicht.« Seine Augen wurden rund. »Ich hatte mit Frau Ehrsam keinen Kontakt. Ich habe mit ihr gesprochen, wie ich es mit allen Gästen tue.«
Nore Brand zweifelte daran, aber sie ließ sich nichts anmerken. »Frau Ehrsam kommt seit vielen Jahren, Jahrzehnten muss man sagen, hierher zur Kur.«
»Ja, so ist es, aber ich hatte nie ein persönliches Gespräch mit ihr. Die üblichen Höflichkeiten.«
Sie war weder jung noch blond, dachte Nore Brand.
»Wenn das Essen aufgetragen wird«, fuhr Benvenuto weiter fort, »haben wir keine Zeit für Gespräche und Frau Ehrsam ging immer sofort in ihr Zimmer zurück. Manchmal las sie in der Halle ihre Zeitungen. Man hat extra für sie die Prawda bestellt. Und russische und englische Kunstzeitschriften, nur für Frau Ehrsam. Sie hatte auch einen Samowar in ihrem Zimmer. Man tat alles, damit sie sich wohlfühlte. Alles. Frau Ehrsam legte viel Wert auf die russische Seele in ihrer Umgebung.«
Was er offensichtlich für eine Geldverschwendung hielt.
Nore Brand erinnerte sich an ihr Ritual. Sie zog ihr Notizbüchlein hervor, schlug es auf und begann zu kritzeln. Sie spürte Benvenutos Blick auf ihren Fingern.
»Haben Sie irgendeine Veränderung in ihren Gewohnheiten beobachtet?«
Benvenuto zog ein weißes Taschentuch aus seiner Jacke und tupfte die Stirn ab. »Nein, sie war immer gleich. Sie konnte gut befehlen, wie ein General, aber im Lauf der Jahre gewöhnt man sich daran. Wer reich ist, darf befehlen, nicht wahr?«
»Aber Frau Ehrsam bezahlte ihren Aufenthalt nicht, sie war Gast des Hauses.«
»Reich sein genügt. Da werfen sie einem alles hinterher.« Sein Lächeln war leer.
Nore Brand antwortete ihm nicht. Waren alle im Hotel darüber informiert? Vielleicht legte die Direktion sogar Wert darauf, dass dies bekannt war. In diesem Hotel-Mikrokosmos blieb mit Sicherheit nichts geheim, da gab es zu viele Verbindungen, zu viele Möglichkeiten und Gelegenheiten, Geheimnisse weiterzugeben.
Die Tatsache, dass Frau Ehrsam im wahren Sinne des Wortes Gast war, musste Neid auslösen bei den weniger privilegierten Kurgästen, die sich den Aufenthalt zusammengespart hatten. Doch vielleicht nährte sie zugleich die Hoffnung, auch einmal vom Schicksal auserwählt zu werden, und genau diese Hoffnung hielt die Lästerzungen zurück, so wie der Lotto-Millionengewinn eines Einzigen sogleich bei allen anderen Mitspielenden den Glauben an das eigene große Glück verstärkte, das in
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