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Matterhorn

Matterhorn

Titel: Matterhorn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: K Marlantes
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lassen ihre Verwundeten und Toten niemals zurück. Sie würden nie damit rechnen, dass ein Marine gegen diesen Kodex verstieß und sich an ihnen vorbeischlich. Er würde einfach rausmarschieren, zur VCB und in Sicherheit. Er würde einfach aus dem Krieg rausmarschieren.
    Die Fantasie kehrte immer wieder, mit immer neuen Einzelheiten. Aber sie blieb Fantasie. Der Teil in ihm, der das Sagen hatte, würde sich an den Kodex halten. Er würde eher sterben, als jemanden im Stich zu lassen. Und ergeben würde er sich auch nicht. Er musste an einen Vortrag denken, den sie in der Basic School gehört hatten. »Ein Marine ergibt sich niemals, solange er die Möglichkeit hat, Widerstand zu leisten. Und wir bringen euch Blödmännern den waffenlosen Nahkampf bei. Erst wenn es euch die Hände abreißt, dürft ihr euch ergeben. Dann müsst ihr allerdings die Füße heben.« Sie hatten gelacht.
    Es gab kein Entkommen. Von Zeit zu Zeit überwältigte ihn dieser Gedanke wie eine Welle. Es gab kein Entkommen. Schlimmer noch, er hatte beschlossen, hierzubleiben und zu kämpfen. Er würde hier im Morast sterben. Er würde sterben, und im Gegensatz zu Kendall würde er niemals erfahren, wie es war, auch nur vier Wochen lang verheiratet zu sein. Er würde ebenfalls nie ein Kind haben, nie eine Arbeit machen, die ihn mit Befriedigung erfüllte, nie alte Freunde wiedersehen. Vielleicht würde jemand aufsammeln, was von seinem Körper übrig blieb, und es nach Hause verfrachten, doch was diesen Körper bewohnte, würde enden, genau hier, in diesem Loch, über sein Gewehr gebeugt oder sich in die Hosen scheißend, genau wie alle anderen.
    Den ganzen Tag nagte mörderischer Durst an den Kehlen, krallte an Schläfen, hämmerte auf dehydrierte Köpfe ein. Gebt mir Wasser. Ringsum Nebel. Nebel ist Wasser, aber er verschaffte keine Linderung.
    Man hörte ein mehrmaliges lautes Scheppern. Der ganze Berg geriet in Spannung. Das Scheppern wurde gedämpft, dann verstummte es. Niemand wusste, was es hervorgerufen hatte.
    Fitch kam herunter, hockte sich neben das Loch und fragte, wie es allen gehe. Seine Augen waren von der Austrocknung eingesunken und dunkel.
    »Wir haben Durst«, sagte Mellas. »Kriegen die Truppen in Vietnam nicht jeden Tag Bier und Eiscreme?«
    Fitch schmunzelte. »Ich habe eine gute und eine schlechte Nachricht. Heute Vormittag landen sie nördlich von uns zwei Kompanien vom Vierundzwanzigsten und zwei weitere, sobald es geht. Three Twenty-Four wird östlich von uns abgesetzt. Sie werden die Anhöhen auf Mutter’s Ridge besetzen, und dann kriegen wir ein paar Batterien Hundertfünfer.« Er hielt inne. »Und Alpha und Charlie haben vor fünf Minuten in dem Tal südlich von uns angegriffen.«
    »Ohne Scheiß?« Mellas spürte, wie sich Begeisterung und Hoffnung regten. »Wo?«
    »Das ist die schlechte Nachricht. Wegen der Wolken haben sie sie zwei Tagesmärsche von hier absetzen müssen – zwei Tagesmärsche, wenn sie nicht selber in die Scheiße geraten.«
    »Glaubst du, das werden sie?«
    »Erinnerst du dich noch an dein kleines Zahlenspiel mit den Mörsergranaten?«
    Mellas gab keine Antwort.

Kapitel 16
    V ierzig Minuten später stieß die Charlie-Kompanie auf die NVA . Murphys Zug, der die Spitze innehatte, geriet im Bambus in einen Hinterhalt. Die NVA -Soldaten hatten zwei zehnpfündige DH 10 -Richtminen an einem Baum befestigt, warteten möglichst lange, bis die Marines ganz nahe waren, zogen die Sicherungsstifte und rannten weg, wobei sie ihren Rückzug mit Feuer aus automatischen Waffen deckten. Der reinste Spaziergang, wie man so schön sagt.
    Ein Marine starb, ein zweiter verlor ein Bein. Murphy musste eine Gruppe zurücklassen, um die beiden zu evakuieren, wodurch ihm unterm Strich vierzehn Mann fehlten.
    Auf dem Berg bekamen die Marines der Bravo-Kompanie alles mit. Mellas rannte zum Befehlsstand, um die Positionsmeldung der Charlie-Kompanie zu hören. Sie war noch sechs Kilometer entfernt und über tausenddreihundert Meter unterhalb von Bravo, und dazwischen stand die NVA .
    Fitch sah Mellas an. Sie wussten beide, dass sie ohne die Munition der Charlie-Kompanie noch etwa eine Minute lang schießen konnten. Dann blieben ihnen nur noch die Messer. Und dann war alles vorbei. Fitch ließ kurz den Kopf zwischen die Knie hängen, dann blickte er auf. »Könnte sein, dass wir’s nicht schaffen«, sagte er.
    »Ich weiß«, antwortete Mellas.
    Sie konnten nicht ausdrücken, was sie empfanden. Es hatte mit der Ewigkeit, mit

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