Matto regiert
Wohnung.
Ein Meitschi hatte ihm angeläutet… »Ich läut Dir dann um zehn Uhr an, Ueli…« Um zehn Uhr geht man mit einem Meitschi spazieren. Vielleicht war der Spaziergang ausgedehnter gewesen, als er zuerst vorgesehen war, man war nicht zurückgekehrt, hatte einen Frühzug genommen nach Thun, nach Interlaken, auch im Tessin war es sicher jetzt ganz schön, jetzt, wo der Herbst begann.
Und das verwüstete Büro hatte keine verbrecherische Bedeutung; das Verschwinden des Patienten Pieterlen war ein Zufall, und es bestand kein ›Konnex‹, um mit Dr. Laduner zu reden, von ›Imponderabilien‹ ganz zu schweigen.
Vielleicht war man vom kantonalen Polizeidirektor ganz umsonst zu nachtschlafender Zeit aus dem Bett geschellt worden. Blieb immerhin die merkwürdige Forderung Dr. Laduners, die Forderung, »behördlich gedeckt zu werden…«
Da konnte vielleicht etwas dahinterstecken. Besonders, wenn man berücksichtigte, daß der berüchtigte Oberst Caplaun noch in die Geschichte hineinspielte. Sein Sohn… Angstneurose… Gut und recht. Aber gebrannte Kinder scheuen das Feuer, und Wachtmeister Studer scheute den Obersten Caplaun…
›Hulligerschrift!‹ dachte er. ›Das Meitschi ist noch nicht lange aus der Schule.‹ – Und Studer lächelte ein wenig einfältig, weil er sich den alten Direktor Borstli in Pelerine und schwarzem, breitrandigem Hut vorstellte, Arm in Arm mit einem Mädchen. Der junge Totsch blickte voll Verehrung zu dem Manne auf, der ihm etwas ganz Großes schien, und träumte sicher davon, in nächster Zeit Frau Direktor zu werden…
Dr. Laduner würde einen auf die ›große Visite‹ mitnehmen wollen. Wahrscheinlich. Dann traf man wohl den Abteiliger Jutzeler und konnte ihn fragen, wie die Stimme am Telephon geklungen hatte… Man konnte den Nachtwärter Bohnenblust ins Kreuzverhör nehmen und herausbringen, auf welche Art der Patient Pieterlen entwichen war. Dann war alles im Blei, man konnte beruhigten Gemütes zusammen mit dem Dr. Laduner nach Bern zurückfahren, heim in die Wohnung auf dem Kirchenfeld…
Studer zog noch einmal sein Notizbuch, versorgte die blaue Karte mit der Hulligerschrift darin und begann dann, leise und mit viel künstlerischem Empfinden, das Lied vom Brienzer Buurli zu pfeifen. Er pfiff den Beginn der zweiten Strophe, als er aus der Tür des Kasinos trat, aber dann unterbrach er sein Pfeifen…
Denn ein sonderbares Gefährt fuhr vorbei. Ein Zweiräderkarren, eine Benne, und zwischen den Stangen tanzte ein Mann. Am anderen Ende der Benne aber war eine lange Kette befestigt, mit vier Querhölzern. Jedes dieser Querhölzer wurde von zwei Mannen gehalten, so daß also acht Mann an der Kette die zweirädrige Benne zogen. Neben dem sonderbaren Gefährt schritt ein Mann in blauem Überkleid. Er grüßte lächelnd, rief: »Ahalten! Ahalten han i gseit!« Der Mann zwischen den Stangen hörte auf zu tanzen, die acht Mann an der Kette standen still. Studer fragte mit einer Stimme, die vor Verwunderung ganz heiser war:
»Was isch denn das?«
»Der Randlinger Blitzzug!« lachte der Mann. Und erklärte dann zutraulich, das gehöre zur Arbeitstherapie, das sei, damit die Patienten mehr Bewegung hätten… Natürlich, nur die ganz Verblödeten brauche man dazu. Aber sie seien dann viel ruhiger… Und adjö woll!
»Hü, mitenand!« rief er. Und gehorsam fuhr der Blitzzug davon… Arbeitstherapie!… dachte Studer und konnte nicht aufhören mit Kopfschütteln. Heilung durch Arbeit!… Bei den Zugtieren war doch nichts mehr zu heilen!… Aber: Man war ja nicht Psychiater, sondern nur ein einfacher Fahnderwachtmeister… Gott sei Dank, übrigens…
Die weiße Eminenz
Die Türe neben dem Direktionsbüro flog auf, prallte gegen die Holzfüllung, und dann erfüllte dumpfes Stimmengemurmel die Parterrehalle des Mittelbaues. Aus dem Gemurmel sonderte sich eine quäkende und hüpfende Stimme ab, die sagte:
»Wi isch daas, Herr Doktr, sött me-n-ächt d'Lumbalpunktionsgrät zwäg mache?«
Dann die Stimme Laduners:
»Für den Schmocker, meinet Sie? Mynetwegen.« Komisches Schweizerdeutsch, sprach der Mann. Studer ging näher und prallte fast mit Dr. Laduner zusammen, der einen weißen Mantel trug, Brust gewölbt, und immer noch stand die braune Haarsträhne ab wie der Federschmuck vom Kopfe eines Reihers. »Ah, Studer, da sind Sie ja. Gut, daß ich Sie noch treffe… Sie kommen natürlich mit auf die Visite. Ich werd' Sie schnell vorstellen, und dann können wir losgehen…«
Vier
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