Matto regiert
gedeckt, er konnte den Blonden nicht vergessen, auf dem Ruhebette, in Dr. Laduners Arbeitszimmer…
»Wieso seid ihr schuld?«
»Ich hab doch nichts anderes getan als die andern Abende auch. Der Pieterlen hat so schlecht geschlafen, und wenn er zu unruhig war, ist er immer zu mir herausgekommen und hat die Zeitung gelesen, hier am Tisch…«
Studer sah, daß in dem Mauervorsprung, in Kopfhöhe eines stehenden Mannes, eine Lampe brannte, die durch einen metallenen Schirm so abgeblendet war, daß ihr Licht nur auf das Tischchen fiel. Der übrige Wachsaal blieb in bläulicher Dämmerung.
»Und dann?«
»Und dann hat er gesagt, wie fast jeden andern Abend auch: ›Du, Bohnenblust, laß mich noch in den Aufenthaltsraum, ich möcht' noch eine Zigarette rauchen…‹ Er hat gern geraucht, der Pieterlen, und hier im Wachsaal ist es verboten. Da hab ich ihn dort bei der Tür hinausgelassen und Feuer hab ich ihm auch gegeben. Und dann wieder abgeschlossen. Er hat gewöhnlich geklopft, wenn er mit seiner Zigarette fertig war. Manchmal hat er zwei Zigaretten geraucht und ist ein wenig herumgegangen im Saal. Gestern hat's länger gedauert. Dann bin ich nachschauen gegangen, und da war niemand mehr da…«
»Und die Beule?« Studer grinste auf den Stockzähnen…
»Ich hab mich angeschlagen, wie ich in der Dunkelheit herumgelaufen bin, an einer Türe oder an einer Mauer, ich weiß nicht mehr. Ich hab ja dann ruhig erzählen können, daß ich im Nebenzimmer niedergeschlagen worden bin, der Schmocker hatte ein starkes Schlafmittel genommen, das hab ich ihm um halb zwölf gegeben…«
»Aber warum habt ihr so lange gewartet?«
… Die Furcht vor der Entlassung war am Schweigen des Nachtwärters Bohnenblust schuld. Eine begreifliche Furcht, obwohl sie eigentlich grundlos war. Wie er mit scharfer Flüsterstimme erzählte – und dazwischen rasselte es in seinen Lungen – war er schon seit bald fünfundzwanzig Jahren im Dienst. Als Nachtwärter stand er sich besser als die andern, denn die Kost wurde ihm ausbezahlt, immerhin neunhundert Franken im Jahr, während sonst auch die Verheirateten in der Anstalt essen mußten. Er kam somit auf etwas mehr als dreihundert Franken im Monat.
Miete brauche er auch nicht zu zahlen, da er als Abwart im Randlinger Schulhaus angestellt sei.
Und doch…
Bohnenblust gehörte zu jenen ängstlichen Menschen, denen es einmal schlecht gegangen ist – »Ich hab mit sechzig Franken Monatslohn angefangen, und damals hatten wir nur einen halben Tag frei in der Woche… Ich hab es noch erleben müssen, daß mein Bub die Mutter gefragt hat, wer der fremde Mann ist, der hin und wieder zu Besuch kommt«
– und die Angst haben, die bösen Zeiten könnten wieder kommen. »Jetzt, wo es besser geht und ich ein wenig Geld auf der Sparkasse habe, zehntausend Franken, Wachtmeister…« – es war sicher mehr –, »da möcht ich nicht gern wieder so bös dran sein wie schon einmal…«
Aber dabei war der Bohnenblust zugleich ein Mann mit einem weichen Herzen, der niemandem etwas abschlagen konnte – dem Pieterlen zum Beispiel –, der aber in ständiger Angst vor einem Rüffel lebte, denn ein Rüffel war für ihn gleichbedeutend mit einer Katastrophe…
Nur die Art, wie er sich plötzlich erschreckt aufrichtet, flüstert: »Ich muß stechen!« und damit steckt er ein dünnes Messingstäbchen in das Loch der Kontrolluhr, dreht um, einmal, fünfmal, schüttelt die Uhr, hält sie ans Ohr, ob sie auch wirklich noch geht und die Angst, die Angst flackert in seinen Augen…
Ein Mann mit einem weichen Herzen… Es war doch immer so, wenn Menschen bestimmt wurden, andere Menschen zu bewachen. Es war nicht zu verhindern, daß zwischen Wächtern und Bewachten rein menschliche Beziehungen entstanden, daß man einander »du« sagte, solange kein Vorgesetzter in der Nähe war, daß man sich aushalf mit Rat und Tat, mit Zigaretten oder Schokolade… Das gab es in Thorberg, das gab es in Witzwil, und auch im Amtshaus in Bern gab es das… Und es war eigentlich erfreulich, daß es das gab, dachte Studer, der nicht viel von einer übertriebenen Disziplin hielt… Ihm kam es auch nicht darauf an, einem Verurteilten, den er in die Strafanstalt führen mußte, im Bahnhofbüfett noch ein Bier zu zahlen, so als letzte Freude gewissermaßen, vor der langen Einsamkeit der Zelle…
»Also, ihr habt den Pieterlen in den Aufenthaltsraum gelassen… Wie spät ist's gewesen?«
»Halb eins, viertel vor eins…«
Studer rechnete.
Weitere Kostenlose Bücher