Matto regiert
verschwunden, wie auch die Brieftasche verschwunden war mit den zwölfhundert Franken… Warum hatte der Gilgen (komisch, daß man sich diesen Namen ohne weiteres gemerkt hatte), warum hatte der Gilgen ein so ängstliches Gesicht gemacht? Warum hatte er den Wachtmeister besucht, grundlos eigentlich, da er doch wissen mußte, daß der Einfluß, den Studer besaß, gering genug war… War Gilgen an der Sichlete gewesen? Hatte die Mappe etwas enthalten, das gefährlich werden konnte?
Der rothaarige Gilgen! Der einzige Mensch, den man von Anfang an gern gehabt hatte; dies Gefühl ähnelte gar nicht der etwas scheuen Zuneigung, die man dem Dr. Laduner entgegenbrachte. Es war mehr eine jener Freundschaften, die zwischen zwei Männern entsteht, und die deshalb so stark ist, weil sie sich nicht begründen läßt… Solche Dinge gibt es eben, es ist schwer, sie sachlich zu beurteilen… Gilgen… Gut, man mußte die Spur Gilgen verfolgen; aber dann mußte man damit beginnen, das Ausbrechen des Patienten Pieterlen aufzuklären… Das war notwendig. Bohnenblust, der asthmatische Nachtwärter mit der rasselnden Lunge, machte Dienst, ein Gespräch mit ihm empfahl sich…
Und da war noch die Angst, die in den Augen Dr. Laduners hockte… Am Morgen war sie ziemlich deutlich gewesen, heut abend schien sie verflogen zu sein… Aber es war da immerhin die lange Vorlesung über Pieterlen…
Verdächtig…
Schlafen Sie schon, Studer?« fragte Dr. Laduner draußen vor der Türe.
Es war unmöglich, zu schweigen, die Lampe brannte ja.
»Nein, Herr Doktor«, antwortete Studer freundlich.
»Wollen Sie ein Schlafmittel?«
Studer hatte in seinem Leben noch nie Schlafmittel genommen, darum dankte er bestens. Hierauf sagte Dr. Laduner, das Badezimmer sei frei, wenn Studer jetzt oder am Morgen ein Bad nehmen wolle, er solle sich nur ja nicht genieren… Und Studer dankte noch einmal. Dr. Laduner fuhrwerkte noch eine Weile im Nebenzimmer, dann entfernten sich seine Schritte, eine Zeitlang war seine Stimme aus der Ferne zu hören, er erzählte wohl seiner Frau noch etwas, kein Wunder nach solch einem Tag…
»Plaisir d'amour ne dure qu'un moment…«
Warum kam ihm das Lied wieder in den Sinn? Um es zu vertreiben, begann Wachtmeister Studer seine Schnürstiefel auszuziehen, und da fiel ihm ein Satz ein aus der Geschichte des Demonstrationsobjektes Pieterlen, ein Satz, den Dr. Laduner mit merkwürdiger Betonung ausgesprochen hatte…
»Er hatte die Frau in seiner Gewalt…«
Studer versuchte, den Satz nachzusprechen… Dr. Laduner hatte den Akzent auf ›Gewalt‹ gelegt. Gewalt! Jemand in der Gewalt haben… Wen? Den Pieterlen hatte Dr. Laduner in der Gewalt gehabt. Sonst noch jemand?
Da tauchte das Bild des jungen blonden Mannes auf: er lag auf dem Ruhebett und Tränen liefen über seine Wangen. Ihm zu Häupten saß Dr. Laduner und rauchte…
Analyse… Gut und recht… Man hatte auch von dieser Methode der Seelenheilung gehört… Aber es war alles vag und vor allem peinlich… Peinlich! Ganz richtig. Man heilte die Kranken, ah ja! die Neurotiker! – da hatte man ja das Wort! – Studer richtete sich auf.
Man heilte sie, indem man ihre Träume durchforschte, es kam allerhand Unanständiges zutage… Studers Freund, der Notar Münch, besaß ein Buch, das von dieser Methode handelte… Es hatte allerlei darin gestanden, was man sonst nicht einmal an Männerabenden verhandelte, und dort ging es doch wirklich nicht harmlos zu… Das war also Analyse… Es hieß eigentlich anders, es gehörte noch ein Wort dazu… Richtig! Psychoanalyse! Mira, Psychoanalyse… Jeder Beruf hat seine Sprache… In der Kriminalistik sprach man auch von Poroskopie, und kein Laie verstand, was darunter gemeint war, und in Witzwil nannten die Gefangenen die Wärter ›Pföhle‹… Es ist nun einmal so: jeder Beruf hat seine Sprache, und die Psychiater sprachen eben von Schizophrenie, Psychopathie, Angstneurose und Psycho… Psycho… Psychoanalyse. Ganz recht…
Aber nun war es Zeit, sich auf den Weg zu machen. Studer zog ein Paar enganliegende Lederpantoffeln an, die durch ein Gummiband über dem Rist des Fußes festgehalten wurden, und dann löschte er die Lampe.
Als er einen letzten Blick aus dem Fenster warf, sah er ein Licht über den Hof kommen. Er blickte aufmerksamer hin. Es war ein Mann in einem weißen Schurz, der eine Stallaterne schwenkte…
Offenbar ein Nachtwächter, der die Runde machte.
Und dann schlich sich Wachtmeister Studer auf die
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