Mattuschkes Versuchung
gefüllt hatte, das Stimmengewirr war nicht durch die Mauer der Erinnerungen hindurch gedrungen.
»Zug … von … nach … fährt soeben auf Gleis neun ein, Vorsicht an der Bahnsteigkante!« hörte er die angenehme Frauenstimme aus dem Äther. Wie alt sie wohl sein mag?, dachte er. In diesem Augenblick, von seinen Gedanken abgelenkt, erhielt er einen wuchtigen Stoß von hinten, der ihn auf die Gleise schleuderte. Er hörte das Zischen und schleifende Bremsen des herannahenden Zuges, den Aufschrei der Umstehenden, griff mit beiden Händen geistesgegenwärtig nach der Kante und schwang sich darüber, genau in dem Moment, als der Zug passierte, ein Stück seines offenen Trenchcoats erfasste und ihm vom Leib riss. Helfer griffen zu und hielten Paul fest, sonst hätten, Luftzug und Zerren am Mantel ausgereicht, um ihn mitzuschleifen.
Leichenblass lag er auf dem Boden mit aufgeschürften Händen und zerrissener Hose, unkontrolliertes Zittern hatte seinen Körper erfasst, das ihn zunächst nicht sprechen lassen konnte.
»Ich habe schon die Polizei alarmiert«, hörte er jemanden sagen, der sein Telefon aufgeklappt am Ohr hielt, »ein Mann in langem Ledermantel hat Sie hinuntergestoßen und ist sofort in der Menge verschwunden.«
Wenig später fuhr der Zug aus Nürnberg ein. Louise stand aufgeregt am Fenster und versuchte, Paul in dem rasant vorbeigleitenden Menschenstrom zu entdecken, was ihr nicht gelang. Sie spürte die Herzklopfen machende Freude mit unbändiger Kraft. Endlich hielt die Lok mit infernalischem Kreischen, die Türen öffneten sich, sie stürmte hinaus. Sie sah Menschen aufeinander zulaufen mit erwartungsfroh ausgebreiteten Armen, andere herbeieilen, um den Ankömmlingen das Gepäck zu tragen, nur Paul war nicht da, sie war tief enttäuscht. Während der Fahrt hatte sie sich den Moment der Begrüßung hundert Mal vorgestellt, sie in seine weit geöffneten Arme laufend und vor Freude wild herumgewirbelt. Eine Weile blieb sie ratlos stehen, schaute sich um; der Bahnsteig hatte sich gelichtet, so dass sie ihn gut übersehen konnte. Weiter weg stand ein Pulk von Leuten, darunter Polizisten, wahrscheinlich eine Auseinandersetzung oder Schlägerei, die die Präsenz der Ordnungshüter erforderte, das ging sie nichts an. Vera und Gila trösteten, er habe wahrscheinlich keinen Parkplatz erhalten oder die Ankunftszeit vergessen, Männer seien in dieser Hinsicht oft schusselig. Natürlich war es nichts Weltbewegendes, aber seine Unzuverlässigkeit gerade in diesem Augenblick traf sie stärker, als es der Anlass wert war. Jetzt verspürte sie sogar Wut auf ihn, griff nach ihrem Handy und schaltete es aus. Sie hatte keinen Bedarf mehr nach späten Entschuldigungen und Ausflüchten. Als sie ihn auch vor dem Gebäude nicht entdeckte, rief sie kurzerhand Mattuschke an und fragte, ob er sie abholen könne. Auf ihn war wenigstens Verlass.
Während sie warteten, sah Louise plötzlich Karsten in ein Taxi einsteigen, seit der eigenartigen Sexgeschichte hatte sie ihn nicht mehr gesehen. Merkwürdig kam er ihr vor mit Hut und einem überlangen Mantel, den er zusammenraffen musste, um ihn nicht in der Tür einzuklemmen. Sie winkte ihm zu, eigentlich müsste er sie auch gesehen haben, aber er gab es nicht zu erkennen. Was wollte er am Bahnhof ohne Gepäck und Begleitung?
»Das kommt doch gar nicht infrage, dass ich zu euren Wohnungen fahre«, meinte Mattuschke, »wir essen bei mir noch was, ihr müsst fast verhungert sein, während der langen Fahrt in diesem Viehtransporter. Einer meiner Männer fährt euch anschließend nach Hause.«
Louise war gerührt, Heinz hatte ihr ein apartes Blumensträußchen als Willkommensgruß in die Wohnung gestellt und erwartete sie mit einem Tablett leckerer Kanapees und Getränke. Das tat gut nach der Fahrt, Louise sah ihn dankbar an. Warum konnten sie sich nicht ineinander verlieben?
Ehe Paul registrierte, dass der erwartete Zug längst angekommen und die Fahrgäste ausgestiegen waren, befanden sich die Damen schon in Mattuschkes Wagen. Langsam erholte er sich von seinem Schock, die Polizei nahm den Vorfall und die Täterbeschreibung der Zeugen auf. Zum Glück konnte man den Mantelfetzen sicherstellen, in dem sich noch seine Schlüssel befanden. Im Auto rief er sofort Louise an, aber das Handy war ausgeschaltet, den Hörer in ihrer Wohnung hob sie nicht ab. Vielleicht sind sie in die Försterklause gefahren, um etwas zu essen, er fuhr dort vorbei, vergebens. Zu Hause wusch er sich,
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