Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Mattuschkes Versuchung

Mattuschkes Versuchung

Titel: Mattuschkes Versuchung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rolf Ersfeld
Vom Netzwerk:
sich mit ihrem Rüssel am Schwanz des Vordertieres festhalten müssten. Fiete erzählte ihm viel über das ferne Meer und die empfindsame Seele der grauen Riesen, die hier unter so anderen Bedingungen leben müssten, als in ihrer afrikanischen oder indischen Heimat.
    »Weißt du, mein Junge«, erklärte er ihm einmal, als sie im Vorzelt saßen, sich Fietes Butterstulle teilten und den Dickhäutern beim Fressen der ungeheuren Futterberge zusahen, »die Elefanten sind gefühlvoll wie Weiber, wenn du sie öfter reizt, sind sie sehr nachtragend und vergessen nichts, aber wenn sie dich wirklich lieben, ist es für immer.« Heinz, der zwischen Fietes ledrig runzeligen Füßen und denen der Elefanten eine enge Verwandtschaft sah, hatte das Gefühl, sie seien in der Lage, ihm mit ihren kleinen, melancholisch blickenden Bernsteinaugen, tief ins Herz zu schauen und Gedanken zu lesen.
    »Unterschätze sie nie, es sind sehr weise Tiere und, ob du es glaubst oder nicht, sie können sogar lachen«, sagte Fiete und puhlte sich ein Schinkenstück aus den Zähnen. Im Laufe der Zeit konnte Heinz sich selbst davon überzeugen. Manchmal gab er Mathilde, seinem Lieblingselefanten zur Belohnung ein Bier zu trinken. Ihr Rüssel schlang sich um den Hals der Flasche, die hoch gehalten, ihren schäumenden Inhalt in das geöffnete Elefantenmaul rinnen ließ. Dann lächelte sie den Spender dankbar an. Er wunderte sich immer wieder, wie sanft sie mit Fiete umgingen, wie sachte sich die schweren Tiere bei »up« auf die Hinterbeine stellten und auf sein »lift!« vorsichtig die Füße hoben, damit er die Kanten ihrer Zehennägel abfeilen konnte.
    Bei aller Furchtlosigkeit und gewitzten Schläue besaß Heinz eine verwunderliche Eigenheit und Schwäche. Schon im Heim registrierte man verwundert, dass er, der normalerweise einen gepflegten Appetit hatte, manches unverständlicherweise nicht aß, selbst bei Lieblingsspeisen den Tisch verließ oder sich mit dem Teller in einen anderen Raum verkroch, was Bestrafung nach sich zog. Bei den vielen betreuten Kindern hatte man keine Zeit, nach jeder Macke zu fragen, und so blieben diese Merkwürdigkeiten seines Verhaltens ungeklärt. Auf bestimmte Speisen reagierte er allergisch, etwa auf Erdbeeren oder Nüsse. Einmal musste man ihn sogar zur Notaufnahme bringen, so bedrohlich war die Reaktion. Als er damals zu seiner neuen Familie kam, klärte es sich auf. Heinz hatte ein fest genormtes ästhetisches Empfinden mit eigener Vorstellung von , Appetitlichkeit’. Keineswegs nur nach Sauberkeit oder Wohlgeschmack ausgerichtet, sondern allein danach, ob etwas seinen strengen ästhetischen Mustern entsprach oder davon abwich. Bei grell bunten Farben, selbst der leckersten Nachspeise, konnte es geschehen, dass er sie nicht zu sich zu nehmen vermochte. Rote Rüben, deren farbintensiver Saft sich mit anderen Speisen auf dem Teller mischte, brachten ihn zum Erbrechen. Grasgrüner Spinat oder Tomaten waren ein absolutes ,no go’, wie Harry sagte, der einmal in Amerika war. Dabei konnte es geschehen, dass seine Lippen anschwollen, taub wurden und sich augenblicklich Bläschen des Widerwillens bildeten.
    Seine Stiefmutter Lavinia verstand die Not des Kleinen und zwang ihn im Gegensatz zu den Heimbetreuern nie dazu, weiterzuessen oder vor dem Teller zu verharren, wie er es dort als Disziplinarmaßnahme erleben musste, was seine ablehnenden Gefühle nur verstärkte. Eines Tages, als sie eins seiner Lieblingsgerichte kochte und er sich, den großartigen Geruch schon in der Nase, erkundigte, wann es endlich fertig sei, verließ er abrupt seinen Platz und ließ den Teller unberührt. Sein Vater wurde wütend, er werde solche Launen nicht dulden. Verzweifelt gestand der Kleine Lavinia, die giftgrüne Bluse, die sie trug, sei die Ursache, sie mache es ihm unmöglich, am Tisch zu bleiben. Nachdem sie die Bluse gewechselt hatte, konnte er das begehrte Gericht mit größtem Appetit verspeisen. »Er ist nicht wie andere Kinder, er besitzt eine Witterung wie Raubtiere, extreme Eigenheiten und ist seinem Alter weit voraus«, sagte sie zu seinem Vater, dem Messer werfenden Zauberer, »du musst Verständnis für ihn haben.«
    Zum Zirkus gehörte neben dem riesigen Küchenzelt auch eine eigene Bäckerei, die nicht nur alle Mitarbeiter mit Brot und Süßem versorgte, sondern auch die Besucher mit Gebäck, Kuchen und belegten Brötchen verwöhnte. Er schlich gerne um die Zirkusbäckerei herum, die ihn mit ihrem köstlichen Duft

Weitere Kostenlose Bücher