Mattuschkes Versuchung
anlockte. Aber selbst raffinierteste Torten konnten ihn nicht locken, wenn Jupp, der Konditor, sie mit Buttercreme oder Glasuren in intensiven Farben dekorierte. Nie hätte er ein solches Stück essen können, obwohl Jupp es aus reiner Experimentierfreude immer wieder versuchte. Zerbrachen Kuchen oder ließen sie sich nicht aus der Form lösen, waren Stücke zu schmal geschnitten oder fielen Krümel ab, verkaufte Medusa sie in den Kindervorstellungen als Kuchenbruch in großen Tüten für drei Groschen. Ein absoluter Renner, für die Kinder überraschend wie Wundertüten. Hatte man Glück, waren feinste Stücke verunfallter Torten darin, hatte man Pech, füllten allein Krümel oder Stückchen trockenen Gebäcks die Tüte. In diesen Fällen enthielten sie als Ausgleich meist einen zusätzlichen Mohrenkopf, etwas was auch er mit Leidenschaft verspeiste. Ebenso wie er nicht essen konnte, was nicht seinen optischen Vorstellungen entsprach, hätte er auch nichts berühren können, was von diesem Muster abwich.
Abends schlich er sich öfter aus dem Wohnwagen, huschte ungesehen über das Zirkusgelände und kroch unter die Planen des gewaltigen Hauptzelts, das von straff gespannten Tauen in Form gehalten wurde. Unter den ansteigenden Tribünenreihen, des Gradin, kroch er auf dem Bauch nach vorne, das Dickicht von Füßen und Beinen über ihm, bis zu den Logensitzen direkt neben einem Mast, von wo er unbemerkt einen Blick auf die dekorativ erleuchtete Szenerie werfen konnte. Obwohl er die Nummer von Morello dem Clown in allen Details kannte, war er immer wieder fasziniert und empfand sie besser als die nachmittags präsentierte. Das Programm variierte er leicht, stets gab es einige kleine Improvisationen, die dem Spezialisten für Heiterkeit spontan einfielen und ganz auf das jeweilige Publikum abgestimmt waren. Oft musste er in unangenehmer Kühle auf dem Boden verharren, bis Sina und Harry ihre Pferdedressur vorführten. Nach gemeinsamer Präsentation betrat Sina die Manege noch einmal allein mit zwei besonderen Pferden. Das war für ihn jedes Mal das i-Tüpfelchen des Abends. Danach hatte er kein Bedürfnis, länger zu verweilen, nichts konnte mit diesem Höhepunkt konkurrieren, zumal anschließend die Messerwurfshow seiner Eltern kam, nach der sie meist das Zelt verließen, zum Wagen kamen und sich erst wieder zum gemeinsamen Finale im Zelt einfanden.
Er hatte nur Augen für die wunderschöne Sina. Wie leichtfüßig sie die Manege betrat in ihrem silbernen knappen Kostüm, dessen Pailletten im Scheinwerferlicht funkelten, als seien es hunderte Diamanten. Sie knickste, breitete die Arme aus, um das Publikum zu begrüßen, er glaubte, um es zu umarmen, und so fühlte er sich auch in diesem Moment. Sie strahlte in das weite Rund des Zeltbaus, drehte sich geschickt, damit alle sich von ihrem Lächeln beschenkt fühlen konnten. Die Luft brannte, wenn sie das Zelt betrat. Dann nahm sie die Chamabiere, die lange Peitsche, ließ sie durch die Luft schwingen und einmal knallen, dass die Zuschauer vom lauten Hall zusammenzuckten. Wie konnte ihre zarte Hand ihn nur erzeugen? Schwebte sie eben grazil hinein, ging sie nun mit energischen Schritten auf beide Pferde zu, die respektvoll und aufmerksam vor ihr verharrten. Sie schritt mit langen, wohlgeformten Beinen in hauchdünnen Strümpfen. Er wusste selbst nicht, was ihn an den Beinen faszinierte, dem federnden, eleganten Gang und ihm diese eigenartige Aufregung bescherte.
Die Pferde reagierten auf den kleinsten Wink, blieben mit der Hinterhand im weichen Sägemehl des Hufschlags und griffen mit den Vorderbeinen den Boden der Begrenzungsbalustrade ab. »Valse!« Sie drehten sich um die eigene Achse, tanzten nach dem Takt der Musik links, dann rechts herum, nachdem die Peitsche nur die Andeutung einer Richtung machte. Auf leichtes Zungenschnalzen hin, gingen sie elegant im Schritt, traversierten die Manege, fielen synchron in den Trab, »Paire deux!«, ritten parallel nebeneinander, »changer!« dann gegeneinander, wichen sich mit einer Drehung geschickt aus, »arrière!«, gingen gleichzeitig rückwärts, zeigten Piaffen, Volten und Kapriolen. Im umtosten Finale hob sie die Peitsche nur leicht in die Höhe, »hoch!«, worauf sich die Pferde auf die Hinterbeine stellten, die Vorderbeine hochgezogen vor der Brust anwinkelten. Langsam schritt sie rückwärts, die Chamabiere erhoben, worauf die Pferde folgten, das Gewicht der Körper allein auf die Hinterbeine verteilt, während die
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