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Mattuschkes Versuchung

Mattuschkes Versuchung

Titel: Mattuschkes Versuchung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rolf Ersfeld
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Vorderläufe grabende Bewegungen in der Luft vollzogen, quer durch die Manege. Sina nahm den Zylinder ab, ihr hellblond herausfließendes Haar leuchtete golden im Licht, sie verbeugte sich tief vor ihrem Publikum nach allen Seiten, drehte ihm den Rücken zu, wobei das Federbüschel am Hinterteil des Kostüms lustig wippte. Dann breitete sie wieder die Arme aus, auf ihre Pferde zeigend, die nass glänzend, fast bewegungslos nebeneinander standen und auf ihr Kommando warteten, zum Ausgang galoppieren zu dürfen, wo sie von Pflegern eingefangen, der Federbüsche beraubt, abgerieben und in ihr Zelt geführt wurden.
    Er wartete noch, bis die Helfer in schmucken roten Zirkusuniformen mit Geschick und wahnsinniger Geschwindigkeit die Bodenplane auf den Sägespänen ausbreiteten, Pferdeäpfel mit einer Eleganz entfernten, als gehöre es zur einstudierten Choreografie und Zukolowski seine Eltern ankündigte, die in glitzernden Kostümen hereinliefen, sich verbeugten und die drehbare Scheibe mit den Narben tausender Messereinstiche heranrückten. Lavinia, im hauchdünnen Dress, der ihre attraktive Figur vorteilhaft zur Geltung brachte, lehnte sich an die Wand, winkelte die Arme an und sah aus, als würde sie etwas besonders Angenehmes erwarten. Er blieb, bis das erste Messer geworfen war, hatte direkt ein Gespür dafür, wie gut und sicher die Nummer weiter laufen würde. Erst dann kroch er langsam zurück und legte sich im Wagen schlafen. Begegnete ihm jemand unterwegs, legte er den Finger auf die Lippen, und jeder bewahrte Stillschweigen über seine nächtlichen Ausflüge.
    Meist half er morgens beim Auffüllen von Futter und Wasser in den Pferdeställen, in der Hoffnung, Sina anzutreffen, die von den Pferden schnaubend begrüßt wurde. Sie blähten die Nüstern auf, wenn sie sie zärtlich streichelte und Hector, den feurigen Hengst, mit elegant gebogenem Hals, auf die rautenförmige Stirnblesse küsste. Selbst das Striegeln ihrer Lieblinge und Reinigen des Striegels an der Kardätsche führte sie in einer fließenden Bewegung unnachahmlicher Eleganz durch. Entdeckte sie ihn, warf sie ihm einen warmen Blick zu oder gab ihm einen Kuss, nach dem ihm jedes Mal die Haut glühte. Sie war eine liebevolle, gebildete Frau. Sein Vater sagte immer: »Sina ist viel zu schade, zu fein für den Zirkusbetrieb mit seinen rauen Gesellen.« Sie wirkte bis auf ihre Auftritte in der Manege, wo sie Selbstbewusstsein und überlegene Dominanz ausstrahlte, zart, verträumt, verletzlich und litt unter den ständig wechselnden Spielorten, dem dauernden Verladen der Tiere und den Reisen. Wie gerne hätte sie an einem Ort verweilt, in ihrer Wohnung gelebt und einige freie Tage gehabt. Den kleinen Heinz hatte sie ins Herz geschlossen und besuchte seine Eltern nie, ohne ihm eine Aufmerksamkeit mitzubringen. Er liebte sie; für ihn war sie der Inbegriff von Schönheit und Appetitlichkeit.
    Im Winter legte der Zirkus eine Reisepause ein und zog sich ins Winterlager zurück. In dieser Zeit lebten sie in einer kleinen Wohnung im Haus von Tante Friedericke. Er genoss die Zeit, in der sich die Weihnachtstage heranschlichen mit allen Vorboten und Schatten, die das bedeutende Jahresereignis voraus warf. Jetzt hatte er Vater und Lavinia öfter für sich, zumindest am Tag und nutzte es nach allen Regeln aus. An einigen Abenden traten sie zwar noch in Clubs und einem Varieté mit der Magiernummer auf, tagsüber machten sie gemeinsam Spiele, rodelten, besuchten ein Kino im Ort und wanderten durch verschneite Wälder. Vater war als Zauberer seiner Zeit voraus. Während die Kollegen das Gängige präsentierten, Kaninchen aus Zylinder, Tauben aus dem Frack zauberten, setzte er als Erster auf raffinierte Illusion, unterhielt die Zuschauer, fesselte mit Worten und lenkte sie gleichermaßen ab. Seine Fingerfertigkeit besonders bei Kartentricks war enorm. Immer wieder ließ er ein fassungsloses Publikum zurück, wenn er Lavinia von einer Sekunde auf die andere verschwinden ließ, oder den von Zuschauern markierten Geldschein zerriss, verbrannte und anschließend wieder heil aus deren Hosentasche ziehen ließ. Verblüffende Tricks gelangen ihm und seiner hinreißenden Assistentin auch mit chemischen Reaktionen, bei denen sich die Wirklichkeit in Dampf, Nebel oder Farbenspielen auflöste. Die schwebende Jungfrau, selbst mit wahllos aus dem Publikum erwählten Damen, deren ,Status dabei natürlich ungeklärt blieb, bildete den traditionellen Abschluss ihrer umjubelten

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