Mattuschkes Versuchung
Show.
Lavinia backte Weihnachtsplätzchen nach alten Rezepten ihrer Großmutter. Dann erfüllte das Haus ein herrlicher Duft nach warmer Süße, karamellisiertem Zucker, Eierschaum, Kakao, Rosinen, Kardamon und Rum, aber keinen Nüssen, die er nicht vertrug. Am meisten freute er sich auf die köstlichen, kleinen Waffeln, die nach Zimt und orientalischen Gewürzen dufteten, und denen er in einer Weise verfallen war, die ihn alle Grundsätze brechen ließ. Er hatte Jupp, dem Zirkusbäcker von dem sagenhaften Gebäck erzählt, der es einmal nach zu backen versuchte, aber es war, wenn man das Original einmal gekostet hatte, nur eine schlechte Kopie, ein misslungener Versuch, der nichts mit der Faszination des Originals gemein hatte.
An einem Nachmittag versteckte er sich unter dem Elternbett, warum wußte er selbst nicht, wahrscheinlich wollte er Lavinia beim Betreten erschrecken oder sich darüber lustig machen, wenn sie ihn suchte und nicht finden konnte. Nach einer Weile kam sie nichts ahnend herein und ließ ihren Rock fallen. Er sah ihn aus seiner Perspektive langsam an den Beinen hinab gleiten, bis er auf dem Boden einen textilen Kranz bildete, dem ihre zierlichen Füße elegant entstiegen. Ein weißer Unterrock folgte, dann ein zartes Höschen von durchbrochener Spitze, das in die Mitte des Kranzes eintauchte. Er kroch näher an das Geschehen heran. Der Stoff war hauchzart und wies Muster mit winzigen Löchern auf. Wie soll so etwas wärmen, dachte er, froh, in den kalten Tagen dicke wollene Unterwäsche tragen zu können. Tante Friedericke hatte ihm vor einem Jahr mollig warme in olivgrün-brauner Farbe geschenkt, sie hätte fabelhaft gewärmt, aber er konnte sie bis heute nicht anziehen, da ihm von der Farbe übel wurde.
Ein BH fiel hinunter und nahm denselben Weg, auch er war leicht und ähnlich durchwirkt, dann folgten seidene Strümpfe. Ein zart süßlicher Parfumhauch streifte seine Nase, während er noch näher an den Rand des Bettes kroch. Jetzt könnte er Lavinia an den Waden packen und fürchterlich erschrecken. Er drehte den Kopf zur Seite, schaute hoch und sah schlanke Beine von hinten, die in den sanft gerundeten Po und ihren nackten Körper mündeten. Wieder wehte ihm leichter Parfumhauch entgegen. Sie zog sich um für die Zaubershow am Abend. Ein eigenartig aufregendes Gefühl beschlich ihn, unwillkürlich atmete er schneller, der verbotene Anblick der Nackten war geheimnisvoll, schön und verwirrend, besonders der Gedanke, sie beobachten zu können, ohne dass sie es wusste. Jetzt wollte er sie nicht mehr erschrecken, sein heimliches Versteck und das, was er gesehen hatte, nicht offenbaren. Vorsichtig robbte er wieder zurück und gab es erst auf, nachdem sie das Zimmer verlassen hatte. Das Erlebnis beschäftigte ihn noch eine Weile. Was waren die sonderbaren Gefühle, die er ganz ähnlich bei der angebeteten Sina empfunden hatte? Weihnachtstage und Geschenke kamen. Er vermisste Britta, seine Zirkusfreunde und die Tiere, aber die heimelig gemütliche Atmosphäre im Haus von Tante Friedericke wog alles auf. Wochenlang glaubte er den köstlichen Hauch des Gebäcks, noch in Nase und Kleidern eingefangen, wahrzunehmen.
Mattuschke öffnete seine Augen und wischte die Krümel vom Schreibtisch. Dass der unerwartete Geschmack des köstlichen Gebäcks plötzlich die Gerüche in Tante Friederickes Haus und die aufregenden Kindheitsjahre wieder in sein Bewusstsein zaubern konnte, verwunderte ihn. Er war alles andere als sentimental, aber die Rückerinnerung hatte ihn melancholisch gestimmt und durch das Übermaß an wieder erlebten Eindrücken aufgewühlt. Er würde sich morgen bei Louise für das Gebäck bedanken, dem er damals schon auf eigenartige Weise verfallen war. Er reckte sich, schloss das Büro ab, ging aber nicht in die Wohnung, sondern suchte im Keller nach einer Flasche, die seiner augenblicklichen Stimmung entsprach. Er fand sie in Gestalt einer 1997er Serriger Schloss Saarsteiner Auslese, Weingut Schloss Saarstein, die er behutsam hinauftrug, öffnete, Flaschenhals und -rand säuberte, bevor er sich ein Glas einschenkte. Tief zog er den Duft nach gelben Früchten, Aprikose und Ananas in die Nase, bevor er den ersten Schluck nahm. Er benetzte seine Zunge mit milder Süße, zarter Reife, die keine Unruhe mehr verriet, feinster Mineralität und anregender Säure. »Leicht, edel und filigran, dieser Saarwein«, sagte er vor sich hin, er hatte gut gewählt. Den nächsten tiefen Schluck trank er
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