Mattuschkes Versuchung
Vorderpfoten in die Höhe. Er ging näher auf ihn zu, der die Peitsche mit den Krallen zu fassen suchte, nach ihr schlug und Anstalten machte, von seinem Postament herabzusteigen. Scharf sah er ihm in die Augen, ein mutiger Schritt nach vorne, nicht zu weit, ohne die anderen außer Acht zu lassen, ein weiterer Knall mit der Peitsche und der Renitente bequemte sich murrend, es den anderen gleichzutun. Heinz bewegte sich wie auf Watte durch den Käfig, der Boden schien seine Bewegungen zu verschlingen, die Laute aus dem Publikum nahm er nicht mehr wahr. Alle gängigen Nummern liefen problemlos ab, er begann aufzuatmen. So hätten ihn die Internatskameraden oder höheren Töchter sehen sollen, furchtlos wie ein Startorero.
Auf die schwierigsten Übungen verzichtete er, auch die Todesnummer ,Kopf im Rachen des Löwen fiel aus, dennoch zollte ihm das Publikum begeistert Beifall, vor allem, als Zukolowski mit blassen Lippen verkündete, dass er für den kurz vorher verletzten Dompteur todesmutig eingesprungen sei. War er bisher der von allen gemochte große Junge mit besonderen Talenten, schaute man ihn nach der verwegenen Tat mit anderen, respektvollen Augen an. Das süße Gift von Macht und Beherrschen strömte durch seine Adern, ähnlich erregend hatte er es auch bei seinen geheimen Beobachtungen empfunden, ein erhabenes, euphorisches Gefühl.
Er erlernte das Zirkusgeschäft, Buchen vielfältiger Vorgänge, Verwaltungsaufgaben durch immer zahlreichere Vorschriften. Am liebsten waren ihm aber Organisation und Besprechungen, bei denen er sein Verhandlungsgeschick einsetzen und Zugeständnisse erreichen konnte, über die sich seine Gesprächspartner später selbst wunderten. Chapiteau vertraute ihm sukzessive Aufgaben zur selbstständigen Erledigung an, auch die Werbegestaltung, die plötzlich verbal erblühte und manche Attraktion versprach, über die der Zirkus nicht verfügte. Uranus, das Krokodil, mit einem Ferkel im Maul, ein Kamel, das schreiben konnte oder ,Genius’, der die Gedanken der Zuschauer lesen und sie in Trance versetzen konnte. Die Ankündigungen waren reißerisch und lockten Interessierte an, denen er wortreich erklärte, warum die eine oder andere Nummer gerade heute nicht vorgeführt werden könne, obwohl sie gar nicht existierte. Zukolowski stritt mit ihm, biss wütend das Ende seiner Zigarre ab und spuckte es in weitem Bogen aus dem Fenster, das sei unseriös, aber Mattuschke setzte sich darüber hinweg, noch gab der Erfolg ihm recht.
Immer wieder schlich er abends an Sinas Wagen vorbei, in der Hoffnung, einen unbemerkten Blick auf sie werfen zu können, aber es bot sich keine Chance, kein geöffneter Vorhang, bis zu einem Freitag, an dem er etwas Waghalsiges versuchte. Er kroch auf den Wohnwagen, legte sich flach aufs Dach und schaute durch das Deckenfenster ins Innere. Kurz darauf kam Sina von ihrer Vorstellung zurück und zog sich um. Sie tauschte das dünne Manegenkostüm bis zum Finale gegen einen bequemen Hausanzug. Der Anblick trieb ihm sofort das Blut ins Gesicht. Zwar sah er sie nicht nackt, aber selbst mit Slip, Strümpfen und blanken Brüsten war sie so erregend, dass er sich beherrschen musste, nicht laut aufzustöhnen. Wenn sie ihren Blick nur einmal nach oben richten würde, wäre er verloren. Ein wahnwitziges Unterfangen betrieb er da, das ihn Kopf und Kragen kosten konnte, aber die Sucht hatte ihn im Griff und war stärker als alle Vernunft. Sie bemerkte ihn nicht, auch von außerhalb schien ihn niemand gesehen zu haben, als er leichtfüßig vom Wagen absprang. Sina, das grazile Wesen, war ein Traum. Mehr und mehr verfestigte sich der Gedanke, dass ihr Anblick ihm gehöre, alleine ihm zustehe.
Er begann Harry dafür zu hassen, dass es ihm vergönnt war, sie zu sehen, wann immer er es wollte, sie zu berühren, ihren Atem in der Nacht zu spüren, obwohl sie doch seinen Augen, denen des jungen Löwendompteurs gehörte. Harry bemerkte die Veränderung an ihm. »Schlechte Laune? Is it all right, old fellow?«, fragte er aufmunternd und schlug ihm auf die Schulter; wie gesagt, Harry war schon einmal … Am liebsten wäre er ihm an die Kehle gesprungen, hätte ihn angeschrien, Sina in Ruhe zu lassen, aufzugeben für ihn und war sich gleichzeitig seiner wahnwitzigen Gedanken bewusst. Harry bemerkte das unruhige Flackern in seinen Augen und stieß ihm leicht die Faust vor die Brust: »Überschüssige Kraft junger Held? Deine Löwennummer ist grandios, den Schneid hätte ich nie gehabt,
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