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Mattuschkes Versuchung

Mattuschkes Versuchung

Titel: Mattuschkes Versuchung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rolf Ersfeld
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aber mute dir nicht zu viel zu, du weißt ja, Demut ist eine eherne Zirkusregel, don’t forget it!«
    Seit dem denkwürdigen Tag von Ricardos Unfall, präsentierte er die Löwennummer und traute sich sogar einige Erweiterungen zu. Ganz wohl war ihm nicht dabei, und er sehnte sich nach Ricardos Rückkehr, dessen Wunde schneller verheilte, als gedacht. Allerdings würde er die Finger der linken Hand nie mehr richtig bewegen können.
    Wochenlang widerstand er der Versuchung, erneut auf das Wagendach zu klettern, dann übermannte sie ihn. Wieder legte er sich flach auf das kühle gewölbte Blech vor das Oberlicht und wartete auf Sina, die nach ihrer Vorführung immer direkt zum Wagen eilte, während Harry noch bei den Tieren blieb, bis alle in den Boxen waren. Diesmal dauerte es ungewöhnlich lange, das Orchester hatte schon vor etlichen Minuten den Ausmarsch der Pferde gespielt, wo blieb sie nur? Dort, auf dem dunklen Streifen, an den dichten Gebüschen vorbei, müsste er sie auftauchen sehen. Vorhin hatte er ein Rascheln gehört, einen hellen Schrei, wie von einem kleinen Kind, wahrscheinlich eine Katze, dachte er. Das Warten wurde ihm lang. Gerade wollte er sich aufrichten, als er eine vermummte Gestalt mit schwarzem Umhang und einer Mütze über dem Gesicht, gebückt vorbeihasten sah. Gleich darauf hörte er das herzzerreißende Schluchzen einer Frau. Noch konnte er nichts sehen, er kletterte vom Wagen und lief dorthin, woher die Klagelaute kamen. Sein Herzschlag stockte, Sina lag am Boden im Schmutz, ihr silbernes Kostüm war zerrissen, die Haare hingen gelöst und wirr um den Kopf, notdürftig bedeckte sie ihre Nacktheit mit Armen und Händen. Sie sah ihn an mit Augen, die nicht sehen konnten, starr waren die Züge, ihre Glieder zitterten, leises Wimmern drang unaufhörlich aus ihrer Kehle. Er war entsetzt, blind vor Wut und Entrüstung, half der Zitternden aufzustehen und trug sie, leicht wie eine Feder, zum Wohnwagen. Dort legte er sie auf das Bett, das er eben noch von oben im Blick hatte, deckte den heftig bebenden Körper mit warmen Decken zu, wagte nicht, sie alleine zu lassen, bis Harry auftauchte, dem er voller Wut berichtete.
    Sofort wollte er sich auf den Weg nach dem Verdächtigen machen, ihm an die Gurgel gehen. Harry wies ihn an, im Wagen zu bleiben und kümmerte sich zunächst um Sina, die unter Schock stand, half ihr, das Bad aufzusuchen, während Heinz Wasser einschenkte, das sie hastig hinunterschluckte. Sie wusste nicht, wer über sie herfiel, das hauchdünne Kostüm vom Leib riss, den Mund mit seiner groben Hand verschloss, dass sie fast erstickte und gewaltsam in sie eindrang. Das Gebüsch hatte ihren Rücken zerkratzt, der Arm wies blau-rote Stellen auf, so hart musste der Täter zugegriffen haben, der Kopf war verdreht und schmerzte bei der kleinsten Bewegung. Heinz lief zu Amarena, die seinem schnellen Schritt nur mühsam folgen konnte; sie verabreichte ihr einen Beruhigungstrank und blieb an ihrem Bett sitzen. Harry besprach sich mit ihm im anderen Wagenteil. »Es hat keinen Sinn, jetzt alle verrückt zu machen, es ist schon Nacht, wir müssen in Ruhe abwarten, woran Sina sich morgen erinnern kann, oder ob sich der Täter selbst verrät. Lass uns noch einmal die Stelle untersuchen, vielleicht finden wir etwas, das er verloren hat oder abgerissen wurde.«
    Sie sahen sich das Terrain an, suchten Boden und Zweige mit Taschenlampen ab, konnten aber nichts entdecken. Resigniert kehrten sie zum Wagen zurück. »Vorerst zu keinem ein Wort«, sagte Harry, auch zu Amarena gewandt, der Tränen über das uralte Gesicht liefen, »meine Prinzessin, wer kann ihr nur so etwas antun?«
    Widerstrebend legte sich Heinz schlafen, ständig wachte er auf, angefüllt mit ohnmächtiger Wut auf den Unbekannten, der sein Liebstes verletzt und auf so üble Weise entehrt hatte, während er nur wenige Meter entfernt war und ihr nicht beistehen konnte. Aber war er nicht ebenso schlecht, hatte er sie nicht auch entehrt, wäre sie innerlich nicht ebenso verletzt, wenn sie von seinen Beobachtungen wüsste? Er wischte sich mit dem Handrücken dumme Tränen ab. Fürchterlich hatte sie ausgesehen, die liebenswerten, schönen Züge zu einer Maske erstarrt, die Schminke verlaufen, die Augen mit Tusche-Krähenfüßen umrahmt, im beängstigend bleichen Gesicht. Die Bilder zerrten an seinen Nerven, er versuchte, sich die Situation auf dem Dach noch einmal in Erinnerung zu rufen. Er hatte sich auf den einen Gedanken konzentriert,

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