Mattuschkes Versuchung
zu lesen, Reaktionen vorauszuberechnen, und so war ihm schnell klar, dass die Oberin nicht das geringste Interesse daran haben konnte, die Sache publik werden zu lassen, möglicherweise wussten die Mädchen gar nichts von dem Vorfall und sollten es auch nicht erfahren. Er wartete, bis sich Eisenrost ausgetobt hatte, dann setzte er alles auf eine Karte: »Ich sehe ein, dass eine harte Bestrafung vonnöten ist, obwohl ich nur ein einziges Mal hindurchgeschaut und vor Dampf nur Schemen gesehen habe.« Die Oberin sandte einen dankbaren Blick nach oben. Die Offenlegung würde sich allerdings wie ein Lauffeuer verbreiten, bisher ahnungslose Eltern und Schülerinnen verunsichern, obwohl die Sache ohne Schaden behoben sei. »Da nur ich alleine beteiligt war, muss es niemand sonst erfahren. Es hängt allein von Ihrer Entscheidung ab, ob ich Stillschweigen bewahre oder die Geschichte überall verbreite, was nicht zu vermeiden ist, wenn man mich sofort von der Schule verweist und einen Zeugniseintrag vornimmt. Außerdem könnten Nachahmer auf ähnliche Ideen verfallen.« Das Gesicht der Oberin, nahm ein zartes Olivgrün an, während Eisenrost extreme Mühe hatte, seine Kiefer zu schließen, das waren Dinge, die er im ersten Zorn nicht bedacht hatte.
Man berate sich, er möge warten. Er hatte ihre Verunsicherung gespürt, außer den unmittelbar Beteiligten wusste keiner von der Beobachtung. So könnte er Konrad aus der Sache heraushalten und die Strafmaßnahmen günstiger gestalten. Seine Hinweise zeigten Wirkung. Man nahm den sofortigen Schulverweis zurück. Er habe das Internat nach Ablauf des Schuljahres mit der mittleren Reife zu verlassen, kein Zeugnisvermerk, kein Pranger, kein Brief an die Eltern, vier Wochen Küchendienst unter der Zusicherung absoluten Stillschweigens. Würden allerdings seine Eltern auf eine Fortsetzung der Internatslaufbahn bestehen, müsse man sie über die Vorkommnisse informieren. Er war zufrieden, den Abgang würde er schon zu Hause regeln können.
Alles lief in geordneten Bahnen. Freitags erfüllte wieder ein Duft nach Seife, Fichtennadeln und Reinlichkeit die Luft, und er dachte mit wehmütigem Sehnen an das, was sich hinter den brüchigen Mauern abspielte. Seine Augen trugen Trauer. Konrad war dankbar, dass er ihn aus der Sache heraushielt, nicht auszudenken, was andernfalls im bigotten Hause Steinbrech los gewesen wäre. Das Schuljahr ging zu Ende, nach etlichen Diskussionen hatte Vater seinem Wunsch nachgegeben, von der Schule abzugehen und eine kaufmännische Ausbildung im Zirkus zu absolvieren. Sein Einsatz während Zukolowskis Erkrankung hatte sich herumgesprochen, und er war schließlich froh, sich wieder ganz der Artistenkunst widmen zu können. Den eigentlichen Grund für die Beendigung der Schullaufbahn erfuhr keiner.
Nachdem er seinen neuen Job angetreten hatte, waren die ersten Herausforderungen zu bewältigen. Organisatorische Umstellungen, neue Verträge, andere Nummern. Dann fand man Schnippel, den Maler, eines Morgens tot in seinem Wagen, mit einer Lampenschnur erhängt. Ricardo, im Käfig ausgerutscht, wurde von einem Löwen angefallen, der ihm die Pranke an der Schulter vorbei schlug, Fleisch und Sehnen von den Knochen trennte. Er kam sofort ins Krankenhaus. Was war zu tun? Die Abendvorstellung stand unmittelbar bevor.
Ehe sich die Nachricht zu seinen Eltern verbreitet hatte, stieg Heinz in den Käfig und präsentierte eine abgespeckte Nummer. Die Löwenvorführung kam als erste des Programms, da der massive Käfig aufzustellen war, was man bereits vor Beginn der Vorstellung erledigte. Während der Pause errichtete man ihn erneut für die Tigerdressur. Heinz kannte die Löwen, auch er war ihnen vertraut. Tausend Mal war er bei den Dressuren im Käfig anwesend und hatte Einzelheiten mit Ricardo diskutiert, aber noch nie hatte er allein die Kommandos gegeben und im Käfig gestanden.
Als sich das Tor schloss, die Katzen durch den engen Gittertunnel auf ihn zuliefen, die Assistenten mit langen Gabeln am Käfig postiert, um sie notfalls abzulenken, war ihm plötzlich mulmig zu Mute, aber es gab kein zurück. Die Tiere schienen verunsichert, aber nicht feindselig. Winzige Schweißperlen standen ihm auf der Oberlippe, aber nach außen wirkte er ruhig. Eine kurze Verbeugung zum Publikum, dann sofort die Katzen im Blick, um ihnen nicht den Rücken zuzukehren. Er rief jede einzeln mit ihrem Namen, sagte dieselben Kommandos, ließ die Peitsche knallen und alle außer Sultan hoben die
Weitere Kostenlose Bücher