Matzbachs Nabel
Angedenken in schäbigem Gefäß bewahrt werde, nannte man mich Felix.« Er seufzte. »Müssen wir so weiter reden? Es ist arg früh. Oder spät; je nachdem.«
Matzbach betrachtete ihn mitleidig. »Die tiefe Meditation, aus der ich Sie geholt habe, war wohl eher, was wir armen Langnasen als Schlaf bezeichnen, wie?«
Yü rieb sich die Augen; dann hielt er sich an der Kaffeetasse fest. »Kann man so sehen. Also, Großvater hat einige Zeit den Wagenpark der Garnison in Urumtschi verwaltet. Um 1930 wurde er nach Schanghai versetzt; da hat er dann meine Großmutter kennengelernt und sich ordnungsgemäß mit ihr vermählt. Bei einer Schießerei mit den Japanern sind beide Ende der Dreißiger umgekommen; mein Vater, ihr einziges Kind, geboren 1932, hat dann eine Weile als, na ja, Laufbursche und Hausdiener in einem Bordell gearbeitet.«
»Es schadet nicht, sich in früher Jugend mit der Welt vertraut zu machen.«
Yü kicherte. Während er weiterredete, sah sich Matzbach abermals im Wohnraum um, da er nicht sicher war, ob er nicht doch zuviel gesehen hatte.
Das Haus mochte zu einem anderen Zweck errichtet worden sein, barg aber im Erdgeschoß nun nur Gerümpel, Material und Werkzeug; es gehörte zum Tischler, Schreiner, Küfer, Sargmacher oder Zimmermann, dem Yü gelegentlich half. Für seine Hilfe erhielt er hin und wieder kleinere Summen; außerdem konnte er im ersten Stock wohnen. Matzbach hatte bei der Zubereitung des Kaffees die Küche gesehen; sie war leer bis auf Becken und Kochplatte. Das Bad, ebenso kahl, bestand aus Dusche (ohne Vorhang), Klo (ohne Brille) und Waschbecken; ein Handtuch und eine Rolle Klopapier machten es nahezu wohnlich. Der eine große Raum, in dem sie sich befanden, enthielt zwei Melkschemel, auf denen sie saßen, und eine zusammenrollbare Schlafmatte mit ein paar Wolldecken, dazu Bücher, ein langes Messer und Gurte.
Yü berichtete in geradezu üppiger Knappheit von seines Vaters Jugend im besten Bordell Schanghais, das einer mandschurischen Weißrussin namens Madame Katerina gehörte; von schrägen Gestalten und ihrem oft seltsamen Ende; von einem etwa gleichaltrigen Amerikaner, der eines Tages unter mysteriösen Umständen verschwand, als die Japaner längst das Land besetzt hatten; von Kriegsende, Wiederbeginn und Schluß, als Yüs Vater mit einem der letzten britischen Kanonenboote (er hatte inner- und außerhalb der diversen Bordelle ein paar Offizieren bisweilen gute Dienste als Informant und allgemein »Besorger« geleistet) vor kommunistischer Inquisition und Missionierung floh, in Gesellschaft unter anderem eines kanadischen Journalisten, der später Karriere in der Politik machte; von den weiteren Bewegungen des Vaters, der es von einer Garküche in Hongkongs Yellowthread Street zum Schiffskoch auf einem Frachter brachte und in London eine junge Frau kennenlernte, deren Eltern ein chinesisches Restaurant in Zürich betrieben, wo sie später bei derGeburt des Sohnes Felix starb, der ein paar Jahre danach mit dem Vater nach München ging, eine ordentliche Schulausbildung und einen deutschen Paß besaß, inzwischen 30 Jahre alt war und sich seit einem Jahrzehnt als Kellner, Koch und Kampfsportlehrer, als Leibwächter, Gigolo und Handlanger durchschlug.
»Mir fehlt, wie man leicht sieht, die Festigkeit der Mitte, deswegen franse ich an allen Rändern ein wenig aus.« Yü glitt vom Schemel in den Lotossitz auf dem Fußboden, betrachtete die harten, rissigen Fußsohlen auf seinen Knien und seufzte kaum hörbar. »Nun wissen Sie, alter Herr Matzbach, daß ich zu nichts tauge, wobei Tugend erforderlich wäre; und ich weiß, da Sie es mir erzählt haben, daß tugendhafte Erfordernisse bei Ihnen keinerlei Tauglichkeit auslösen.«
Matzbach grunzte leise; seine Augen glitten über die nackten weißen Wände und die vorhanglosen Fenster, ehe sie zu Yü zurückkehrten. »Zucht und Maße, o Glücklicher Yü, sind ebenso aus der Welt geschwunden wie die übrigen Illusionen des mittelalterlichen Rittertums. Es soll ja gelegentlich mal tugendhafte Fürsten gegeben haben, später immerhin tüchtige Politiker, und da, wie einer Ihrer erlauchten alten Vordenker sagte, das Untere immer ein Spiegel des Oberen ist, gab es zu jener fernen Zeit, es war einmal, womöglich auch tugendhafte Untertanen oder tüchtige Bürger. Heute ist das anders. Wer glaubt denn noch ans Christkind, an den Klapperstorch oder an redliche Politiker? Die Macht, die vom Volk ausging, hat sich irgendwo verirrt und den Rückweg
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