Mauer, Jeans und Prager Frühling
mit dem letzten Pausenklingeln verschwanden wir schnell wieder aus dem Opernhaus.
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Oder eine Geschichte, die ich mit meinem Freund Lutz Glaser in Budapest erlebte. Wir zechten in einem Weinlokal auf dem Gellertberg, aßen die wohlschmeckenden Fettbemmen mit Paprika und steckten uns jeder den folkloristisch bemalten Teller, auf dem wir sie serviert bekamen, unters Hemd (»Der war doch im Preis drin!«).
Beim Abstieg kletterten wir auf den Sockel des Bischofdenkmals, hielten uns an den bronzenen Falten seines Gewandesfest und umrundeten den heiligen Mann, uns bot sich ein toller Blick auf die nächtliche Stadt.
Aber damit war unser Pegel an Ausgelassenheit noch nicht erreicht. Auf der Elisabethbrücke fiel mir ein, daß ich in der Schule seinerzeit im Klettern an der Stange immer recht gut war. Also ran an die starren Metallseile und hoch, so weit die Kraft reichte. Als ich dann von oben auf die schwarze, aber da und dort silbrig glitzernde Donau sah, wurde mir doch etwas blümerant, und ich sorgte lieber wieder für festen Boden unter meinen Füßen.
Den Heimweg auf einer langen schnurgeraden Straße gestalteten wir dann recht effektiv, indem wir ein herumstehendes dreirädriges Gefährt kaperten. Der Besitzer nutzte es zum Transport von Sand, der sich in einem Holzkasten über den Hinterrädern befand. Ich mußte tüchtig in die Pedale treten, derweil sich mein Freund räkelte wie am Strand der Ostsee.
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Oder zur Herbstmesse 1968 auf dem Sachsenplatz. In ausgelassener Stimmung kamen wir aus einer Innenstadtkneipe. Wir waren eine Truppe von vier, fünf Leuten. Meine Freundin Stefanie und Siegfried Hillert waren dabei. Irgend jemand hatte ein kleines Transistorradio in der Hand, das hielten wir Vorbeikommenden wie ein Mikro hin. Wir imitierten einen bayrischen Tonfall und fragten die Leute Verschiedenes zu Leipzig. Kurioserweise erzählten fast alle Passanten munter drauflos. Als wir jedoch wissen wollten, was sie zur Sprengung der Unikirche sagten, war es mit der Redseligkeit vorbei, und sie gingen ihrer Wege.
An jenem Abend hatten wir großes Glück. Dieser jugendliche Übermut, von Alkohol und Heiterkeit inspiriert, hätte vor einem Stasi-Schreibtisch enden können.
Aber auch das gab es im Alltag einer Diktatur: daß jegliche Vernunft abgeschaltet war, ja, daß wir die Diktatur für eine Zeit einfach vergessen hatten …
Zeit für Lyrik
Wenn in den sechziger Jahren eine sowjetische Vorliebe auch uns erfaßt hat, so war es die Begeisterung für Gedichte, zumal unter der studentischen Jugend. Ständig gab es irgendwo Lyrik-Lesungen. Jewgenij Jewtuschenko trug in Moskau vor Tausenden seine Gedichte vor, der kritische Liedermacher Wladimir Wyssotzki und der Dichter Bulat Okudshawa wurden genauso verehrt wie Anna Achmatowa oder Ossip Mandelstam. Die jungen Leute fanden in der Lyrik ihr Lebensgefühl widergespiegelt.
Auch die DDR wurde regelrecht von einer Lyrikwelle erfaßt. Die Resultate waren von unterschiedlicher Qualität, viel Plakatives, aber auch viel wirkliche Poesie. Im Verlag Neues Leben erschien monatlich ein Heft mit dem schönen Namen »Poesiealbum«, in dem moderne deutsche und ausländische Lyrik vorgestellt wurde. Herausgeber war Bernd Jentzsch, später Richard Pietraß.
Die Kulturpolitiker in der DDR versuchten allerdings, gar zuviel Initiative zu kanalisieren, und wandelten den spontan entstandenen »Hootenanny-Club« in Berlin, an dessen Namen Perry Friedman eine Aktie hatte, in den »Oktoberclub« um. Damit startete die von oben gelenkte FDJ-Singebewegung; bekannt geworden ist vor allem das unsägliche Lied vom Leipziger Journalistikstudenten Hartmut König.
»Sag mir, wo du stehst!«
Und das wollte die Partei möglichst genau wissen.
Eine Veranstaltung von Rang in jenen Tagen war »Jazz, Lyrik, Prosa« mit Manfred Krug, Eberhard Esche, Gerd E. Schäfer. Heute würde man so etwas »Kult« nennen. Krugs »Die Kuh im Propeller« kannte damals fast die ganze Republik, und Formulierungen aus dem Gedicht gehörten überJahre zum Sprachgebrauch von DDR-Bürgern. Genauso erfolgreich trug Esche »Der Hase im Rausch« vor. Ähnliche Veranstaltungen schossen nun überall wie Pilze aus dem Boden.
Im »club 80b« der Leipziger Gastronomie-Fachschule wirkte ich an so einem Abend mit. Ich besitze noch den Schnellhefter, auf den wir an jenem 14. Oktober 1966 die Programmfolge schrieben, ein paar Minuten, bevor wir anfingen: unsere Namen, und wenn von der Band gejazzt wurde, steht da noch das
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