Mauer, Jeans und Prager Frühling
beizeiten in der DDR gebraucht!
»Zugleich war es Sitz des Vereins ›Vorwärts‹, aus dem unter August Bebels Leitung 1865 der Leipziger Arbeiterbildungsverein hervorging.«
Nicht einmal die angeblich so verehrte und respektierte Geschichte der Arbeiterbewegung war den Funktionären Grund genug, das Gebäude stehenzulassen.
Auch das älteste Bürgerhaus der Stadt, Deutrichs Hof, erbaut im Stil der Renaissance, entkam der Abrißbirne nicht. Ein Freund (oder war es eine Freundin?) hat mir eine der wenigen aus dem Haus geretteten Delfter Kacheln geschenkt, die anderen landeten im Schutt oder wurden nach einer nächtlichen Zechtour geklaut. Der gesamte Treppenturm war gekachelt.
Deutrichs Hof besaß die älteste Stuckdecke aller Gebäude in Leipzig. Vor dem Abriß wurde die Galerie aus besonderen Hölzern, die um den Innenhof lief, geborgen. Wo ist sie geblieben? Das weiß heute niemand mehr.
In dem Haus befand sich im Erdgeschoß »Waffen-Moritz«,eine der ältesten ortsansässigen Firmen. Das Geschäft wurde später im Komplex des Handelshofes in der Reichsstraße weitergeführt. Es war kein martialischer Waffenhandel, sondern man verkaufte Jagdbedarf, Angeln und Hundeleinen, höchstens ein paar Messer und ein Luftgewehr waren dort zu erstehen. Über 200 Jahre hat sich »Waffen-Moritz« behauptet, bis zum Ende der DDR eines der wenigen privaten Geschäfte im Zentrum. Erst die Marktwirtschaft des neuen Deutschland hat mit ihren hohen Mieten den »Waffen-Moritz« liquidiert.
Das Riquet-Haus sollte in den Sechzigern ebenfalls abgerissen werden. In der »Leipziger Volkszeitung« wurde schon gegen das Eckgebäude gehetzt. Jugendstil galt sowieso als bürgerlicher Zimt.
In der Katharinenstraße traf es die Nummer 12, das einzige erhaltene Gebäude auf der zerstörten Seite dieser ehemals barocken Prachtstraße. Seit 1802 hatte »Klassigs Kaffeehaus« dort zum Verweilen eingeladen, 1846 erweitert, hieß das Lokal nun »Europäische Börsenhalle«. Das klingt schon nach heutigem Europa. 102 Jahre später sah die Landkarte Europas allerdings ganz anders aus, und in diesem Jahr, 1948, wurde im Haus die erste HO-Gaststätte Leipzigs eröffnet. Seit 1957 hieß die Gastwirtschaft Sachsenhaus, obwohl das Land längst in drei Bezirke zergliedert war.
Erstaunlich ist ein Blick in die Speisekarte vom Anfang der sechziger Jahre: von der echten Schildkrötensuppe für 2,25 über das Rumpsteak »Westmoreland« für 4,20 bis zum französischen Courvoisier für 1,80 reicht das Angebot. Die Vielzahl der Speisen verblüfft, das hat die HO später nicht mehr leisten können.
Ein übriggebliebenes Jugendstil-Haus in der Thomasgasse mußte ebenfalls weichen. Der Architekt Johannes Schulze gab kurz vorher einem Arbeiter 5 Mark und sagte: »Hole mir wenigstens den Kopf dort vom Dach!« Nun ist der schöne Kopf einer Flora-Figur auf der Wiese hinterm Haus des Architekten zu besichtigen. Sogar das ausgebrannteGewandhaus im Musikviertel, nach dem Krieg mit einem Notdach versehen, um es irgendwann wieder aufzubauen, wurde in den Sechzigern zerstört. Arnd Schultheiß erzählte mir, daß nach dem Krieg noch das ausgeglühte Fahrrad von Hermann Abendroth in der Ruine gestanden hat. Auf manchen Fotos wirkt das Konzerthaus äußerlich nahezu intakt, genau wie das ausgebrannte Bildermuseum am Augustusplatz, das 1962 abgerissen wurde. Schultheiß: »Nach dem Krieg hatte man im Foyer des Gewandhauses schon wieder mit Steinmetzarbeiten begonnen. Ein Notdach wurde errichtet, eine Stahlkonstruktion, die verbrettert wurde. Darauf kam Teerpappe. Das Holz faulte, es tropfte durch, die Hitze des Sommers sackte in den Keller, und dort hatte jemand eine Champignonzucht eingerichtet.«
Mein Freund Guido, ein Großstadtkind, ist mit seinen Kumpels in der Ruine herumgeklettert. Ein Gitter wurde zur Seite gehoben, und dann sprangen sie in den Keller. Den Pilzzüchtern gefiel das natürlich gar nicht; wenn die Truppe dort unten über die Champignons tobte, riefen sie die Polizei. »Wir sind dann immer höher gestiegen. Oben wurde es gefährlich, ein paar Treppen fehlten. Wir sind einen schmalen Sims entlang – da sind dann die Polizisten nicht mehr weitergegangen. Die haben uns nicht gekriegt.«
Schultheiß erzählte mir, daß sich selbst Johannes R. Becher für den Wiederaufbau des Leipziger Gewandhauses eingesetzt und daß es nach dem Krieg Benefizkonzerte dafür gegeben habe – zum Beispiel von Wilhelm Furtwängler und Bruno Walter. Was ist aus dem Geld
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