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Mauer, Jeans und Prager Frühling

Mauer, Jeans und Prager Frühling

Titel: Mauer, Jeans und Prager Frühling Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bernd-Lutz Lange
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dichteten damals fast alle in modischer Kleinschreibung. Die Texte wurden bei mir zum Glück allmählich immer knapper, bis ich beim Aphorismus landete. Humoristisches, Satirisches lag mir mehr. Irgend jemand schenkte mir dann die »Unfrisierten Gedanken« des Polen Stanisław Jerzy Lec. Ich war fasziniert. Ein schmales Bändchen war in den Sechzigern, von Karl Dedecius übersetzt, im westdeutschen Hanser Verlag erschienen. Solch geistiger Sprengstoff hatte, obwohl der Autor in der befreundeten Volksrepublik Polen lebte, in der DDR keine Chance. Lec schrieb: »Sesam öffne dich – ich möchte hinaus.« Damit sprach er uns aus dem Herzen.
    Oder: »Am Anfang war das Wort – am Ende die Phrase.«
    Die zelebrierte die Partei in unserem Land täglich.
    »Den Blick in die Welt kann man mit einer Zeitung verstellen.« Lec teilte unsere Erfahrungen, er war uns ein Bruder im Geist. Es wurde in jenen Jahren in der DDR viel und in sehr unterschiedlicher Qualität gedichtet. Nicht alles hatte Bestand. In meiner Heimatstadt Leipzig spricht manheute neben anderen noch von Andreas Reimann, dem dritten dichtenden und zeichnenden Reimann nach Großvater Hans und Vater Peter. Drei Vertreter dreier Generationen mit starkem satirischem Einschlag. Scheinbar vererbt sich so etwas auch. 1968 schrieb Andreas Reimann das Gedicht
    Haussuchung
    Sie suchen und suchen: es.
    Sie suchen es über den türen,
    sie suchen es in den schränken,
    sie suchen es in den kartons.
    Sie suchen es hinter den büchern,
    sie suchen es zwischen den büchern,
    sie suchen es unter den laken,
    dem bett und im ofen gar.
    Im spülkasten suchen sie es,
    und suchens im klo.
    Ich würde es ihnen ja geben,
    wenn ich es hätte.
    Aber ich hab es nicht.
    Sie suchen wohl was, das sie brauchen,
    um zu beweisen, daß man sie braucht …
    Im 68er Jahr wurde der vom Aufbau-Verlag geplante Band »Saison für Lyrik« verboten. Es war keine gute »Saison« für so manches Gedicht.
    Nach zwei Hausdurchsuchungen kam Andreas Reimann für zwei Jahre ins Gefängnis.

Die Motorboot-Lesung
    Irgendwann im Sommer 1968 traf ich Siegmar Faust in der Stadt, den ich aus unserem Literaturzirkel kannte. Er zeigte sehr temperamentvoll seine Opposition gegenüber der DDR; für mich war er die Verkörperung des Anarchisten an sich, ohne daß ich damals so richtig gewußt hätte, was das war.
    Faust, von der Universität und dem Institut für Literatur exmatrikuliert, arbeitete damals als Schiffsführer auf dem Stausee in Knauthain. Hieß die Schaluppe, die er steuerte nicht sogar »Weltfrieden«?
    Es war nichts Außergewöhnliches, daß in der DDR schlichte Dinge große Namen erhielten.
    Als Siegmar Faust mir von seiner neuen Arbeit erzählte, sagte ich spontan zu ihm: »Mensch, da könnten wir doch auf dem Boot mal eine Lesung machen.«
    »Daran hab ich auch schon gedacht.«
    Es ist mir heute ein Rätsel, wie er das organisiert hat. Kein Mensch von uns hatte ein Telefon. Vermutlich liefen alle Informationen mündlich über das »Corso«.
    So trafen wir uns also in jenem politisch brisanten, heißen Sommer ’68 am See. Ich kam mit meiner Freundin Stefanie, mit Christel Bärsch und Siegfried Hillert.
    Kurze Zeit, nachdem wir abgelegt hatten, gab es vom Ufer Blinkzeichen mit Taschenlampen. Mich überkam ein eigenartiges Gefühl, weil ich annahm, Polizei oder Stasi forderten uns auf, zurückzukommen. Die anderen dachten ähnlich, und wir berieten kurz, was wir tun sollten, entschieden uns dann aber doch, das Ufer anzusteuern. Zum Glück handelte es sich bei den Blinkenden nur um Gleichgesinnte, die sich verspätet hatten.
    Es versammelten sich etwa 30 Bürgerinnen und Bürgerder DDR ohne polizeiliche Genehmigung außerhalb der Fahrzeiten an Bord der »Weltfrieden«. Das war ein Verstoß gegen das Gesetz und eine hübsche Bestrafung wert. Erst recht, wenn man bedenkt, was wir auf diesem Schiff trieben.
    Wolfgang Hilbig las wohl an diesem Abend erstmals unzensiert vor einem größeren Kreis. Hier forderte keiner eine »Stellungnahme«, wieso er als junger Mensch so kritisch über die DDR dachte und schrieb.
    Siegmar Faust las aus dem Entwurf eines von ihm erarbeiteten Manifests, danach Passagen aus dem Programm der Kommunistischen Partei der ČSSR. Es ging darin vor allem um die neue Kulturpolitik. Sie war von jener Liberalisierung geprägt, die wir uns alle erhofften.
    Andreas Reimann sah sich mit einer Freundin Bilder von der Sprengung der Universitätskirche an. Wenn diese junge Frau durch das

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